24 Okt. – 16 Nov. 2016
Ankommen
Nach drei Stunden Busfahrt von Fortaleza komme ich in Canoa Quebrada an. Hier werde ich drei Wochen arbeiten und bekomme dafür Unterkunft, Essen und ein paar Kitesurfstunden. Direkt neben der Haltestelle finde ich die Pousada, eine Art Bed and breakfast, wo ich mich melden soll. Ich verabrede mich mit Alea und Adrien, die mit mir gefahren sind, für den nächsten Tag und das Mädel an der Rezeption weiß direkt Bescheid. Sie führt mich in mein Zuhause für die nächsten drei Wochen: zwei Zimmer mit je eigenem Badezimmer, Wohnküche und Balkon, von dem aus man das Meer sehen kann. Im anderen Zimmer wohnt Sophia, 18, die ein Jahr Volunteerarbeit macht und so quasi das Jahr finanziert.
Nachdem ich mich eingerichtet habe- endlich kann ich mich mal ausbreiten- treffe ich mich noch kurz mit Anderson, dem Chef. Erster Eindruck: sehr entspannter angenehmer Typ, spüre sofort sein gutes Herz. Langes Haar, schlank und sportlich, Surfer Outfit, Anfang 40, dunkle sanfte Augen.
Zurück in meinem Zimmer fühle ich mich etwas allein nach der Zeit in Jeri, wo ich von so vielen tollen Menschen umgeben war.
Am nächsten Morgen führt mich Anderson durch das Dorf, zeigt mir Pousada, Strand und seine neue Baustelle (näher am Strand als jetzt).
Von seinem Café ‚Windfun‘ bin ich beeindruckt: ein hochwertiges Holzhaus aus dem Süden Brasiliens, das er im Laster hat bringen lassen. Stylische Bar, sandiger Boden, im ersten Stock die Kitesurf-Ausrüstung. Alles mit viel Liebe zum Detail, ich sehe, dass hier viel Herz drin steckt – von der ersten Zeichnung über alle bürokratischen Hürden bis zum finalen Handgriff sind dreieinhalb Jahre vergangen – ein besonderer Ort.
Es gibt wohl viel zu tun für mich: Englischunterricht und im Café helfen, außerdem Verbesserungsvorschläge geben. Anderson weiß, dass man viel sieht auf Reisen und ist offen für neue Ideen.Da Aela und Adrien am nächsten Morgen schon wieder abreisen, treffe ich mich abends mit ihnen im Hostel zum Abendessen mit interessanten Gesprächen.
Woche 1
Ich gebe den ersten Englischunterricht für die Mitarbeiter und bekomme selbst meine ersten Kitesurf Stunden. Zunächst ist mir etwas mulmig bei dem Gedanken, mit so einem riesigen Kite umzugehen- die Dinger sind zwischen sechs und zwölf Quadratmeter groß! Mit Anderson verschwindet die Aufregung jedoch recht schnell – Schritt für Schritt tasten wir uns von Übungen an Land ins Wasser und beim zweiten Mal auf dem Brett kann ich bereits downwind fahren. Zudem stelle ich mich wohl ganz gut an. „You’re sure you haven’t done this before?“ Natürlich haut es mich trotzdem oft genug ins Wasser und ich habe heute noch ein Knie, das ab und zu schmerzt, weil ich bei meinen ersten Versuchen noch nicht die perfekte ‚wie fall ich am besten auf die Schnauze und schlucke wenig Wasser‘-Technik beherrschte.
Ganz schnell erlebe ich jedoch den süchtig machenden Faktor! Im Gegensatz zum Wellenreiten kann man quasi ewig ohne Zwischenstop fahren und muss nicht auf die nächste Welle warten. Angst hab ich auch keine, da die Verletzungsgefahr recht gering ist.
Noch sympathischer wird mir der Sport als Anderson mir den Umgang mit dem Kite erklärt:
Menschen tendieren dazu Dinge festhalten zu wollen, wenn sie schief laufen. Dabei sollten sie einfach loslassen sonst macht man es nur schlimmer.
Im Café lerne ich, wie Tapioka, Vitamina und Chicken Pie zubereitet werden. Anderson bringt mir viel Vertrauen entgegen, gibt mir nach zwei Tagen die Schlüssel und will schnell meine Meinung hören.
Gefühlsmäßig bin ich relativ ausgeglichen: ich habe viel zu tun, kann mein eigenes Essen kochen und koste das aus – wahrscheinlich will ich unterbewusst Reserven für die Zeit danach anlegen – im Reiseführer für Argentinien steht als Kommentar für Veganer: ‚viel Glück‘- das kann ja was werden. Hier dagegen bin ich ganz aus dem Häuschen, weil ich sogar Chiasamen finde.
Ich lerne Anderson besser kennen: in Rio aufgewachsen, drei Geschwister, enger Kontakt zu einem Bruder, war früher bei der brasilianischen Airforce, wurde alle vier Jahre versetzt, viel gearbeitet, dann auch noch weit weg vom Meer. Er fühlt sich versklavt und kündigt vor elf Jahren alles. Viele erklären ihn für verrückt. Dann steigt er bei den Eltern hier im Norden mit ein. Sein Vater stirbt vor vier Jahren bei einem Autounfall. Mit seiner Mutter führt er die Pousada, seine Leidenschaft gilt dem Kitesurfverleih mit Café. Er ist ledig und zufrieden, spielt Schlagzeug, genießt das Leben am und auf dem Meer und schätzt es sein eigener Herr zu sein.
Am Sonntag fühle ich mich einsam und schlendere am Meer entlang. Etwas entfernt liegen zwei Mädels – Moment, sind das nicht… Ich rufe: „heah, die zwei kenn ich doch!“ die Mädels aus Jeri- man weiß nie, was der Tag bringt! Ich geselle mich zu den zweien und wir amüsieren uns über das Wiedersehen. Der Tag ist gerettet.
Meine aktuelle Gefühlswelt:
- Noch zwei Wochen vor mir und ich buche endlich den Flug nach Rio. Freue mich auf ein Wiedersehen mit Fernando.
- Meine Freundin Franzi hat mir ein Bild von ihrem Babybauch geschickt- riesig… wie bei Marina beschleicht mich etwas Wehmut.
- Ich bin allein, aber dennoch viel ausgeglichener als vor vier Wochen, mehr mit mir im Reinen.
- Ich spüre, wie sich vieles verändert. nach einem Jahr zurück und einfach weitermachen wie vorher ist keine Option.
Woche 2 und 3
Die zweite Woche beginnt mit einem traurigen Gefühl. Fernando meldet sich nicht mehr und ich merke, dass es mich beschäftigt, stelle mich der Frage, was es ist, das mich wirklich traurig macht:
- Habe meine Pläne teilweise für ihn geändert und werde jetzt enttäuscht, ärgere mich, meine Stimmung abhängig von jemand anderem gemacht zu haben – er war eben einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort; das hat mich beflügelt
- Meine vertrauten Menschen sind nicht um mich, irgendwo muss ich doch hin mit der Liebe- will teilen, was ich zu geben habe.
- Fühle mich durcheinander und manchmal panisch, was nach dem Jahr kommen soll: was will ich? wo will ich hin? was macht mich glücklich? wie will ich leben und wo?
Die Tage ziehen dahin und ich werde mit dem Ort vertrauter. Canoa Quebrada ist ein Dorf mit 4000 Seelen, in dem man sich sicher bewegen kann. Eine Gruppe von Eseln ist hier völlig selbstverständlich frei auf der Straße unterwegs, von Hunden an jeder Ecke ganz zu schweigen. Die Haupteinkaufsstraße mit dem Namen Broadway ist gesäumt von kleinen Läden, hauptsächlich auf Touristen ausgerichtet, die das Dorf am Wochenende füllen. Straßenstände, die Schmuck, Cocktails oder Tapioka anbieten. Auf meinem regelmäßigen Gang zum Supermarkt muss ich immer wieder schmunzeln, da ich denselben Ladenbesitzern und dazugehörigen Katzen begegne- ja, und das sind nicht irgendwelche Katzen, jede hat ihren festen Platz.
Mein Alltag ist bestimmt von Sport, Arbeit, Zeit mit Anderson, lesen und was sonst noch entspannt ist
- Kitesurf-Unterricht – ich mache jeden Tag Fortschritte, bin hinterher immer besser gelaunt
- Englischunterricht- ich gebe vier Stunden pro Woche
- ich berechne die Kosten der Karte im Café neu, teste neue Rezepte mit Anderson, wir geben der Karte ein facelift
- Abends gehen wir oft noch ein Glas chilenischen Wein trinken, oder auch zwei – und als wir uns besser kennen, ist es eine Flasche plus ein Glas mehr; mit Argentinien und Chile ist kein Entzug in Sicht!
- Endlich alle Grey’s Anatomy Folgen schauen

Meine Stimmung schwankt in dieser Zeit- nicht nur von Tag zu Tag sondern manchmal stündlich. Ich spüre, dass ich bald wieder mehr Menschen um mich brauche- Meredith Grey bekommt in einer Folge von ihrem Therapeuten gesagt: ‚you can be alone. but you don’t want to‘. Finde das für mich gerade auch ziemlich passend.
Die Wochenenden verbringe ich meist mit Anderson: an einem Samstag nehmen wir sein Lasor Segelboot und wollen damit an die Flussmündung. Kaum sind wir auf dem Wasser, wird mir klar, dass hier alles von der Verteilung des Körpers und natürlich dem Wind abhängt. Dieser ist heute extrem stark, wir kentern zweimal und müssen aufgeben.
Am Wochenende danach sind wir auf dem CanoaBlues Festival (mit Flasche Wein).

Die Sonntage verbringen wir in Parajuru, einem beliebten Ort für Kitesurfer, etwa 45 Minuten entfernt. Dort gibt es eine Surfschule in schönem Ambiente mit Bar, an der wir zu allererst immer eine Kokosnuss schlürfen.

Im Auto unterhalten uns mal wieder über Gott und die Welt – aktuelles Thema: Geburtenrate in Brasilien und Alter der werdenden Mütter. Ich: ‚to become a mother with 18 would probably be considered a scandal in Germany.‘ Anderson: ‚oh you can see a lot of scandals walking in the streets here.‘ Ich muss laut lachen und das tut verdammt gut. Ich brauche unbedingt wieder mehr davon!
Das Wetter hier ist übrigens ein Traum:

Meinen Flug habe ich umgebucht. Bin wieder zurück bei mir und hab mir in Erinnerung gerufen, was diese Reise für mich bedeutet. Ich brauche inneren Frieden, mehr Selbstvertrauen und Klarheit. Wer mich sehen will, soll zu mir kommen. Aktueller Plan ist also: Flug nach Curitiba im Süden, danach ein paar Tage Santa Catarina und dann ab nach Buenos Aires.
Wer sich alle Türen offen halten will, hängt halt viel auf dem Flur rum.
Die letzten Tage laufen entspannt, ich bin wieder besser drauf und genieße nochmal die letzten Abende mit Anderson bei Essen und Wein. Es ist faszinierend wie gelassen er ist. Außerdem hab ich nochmal umentschieden und fliege in zehn Tagen nach Santiago de Chile. Motivation für meine Reise nach Südamerika ist unter anderem, meinen Wurzeln nachzugehen und da mein leiblicher Vater aus Santiago ist, möchte ich das nicht aufschieben. In Kontakt mit der verbliebenen Verwandtschaft dort bin ich auch schon – ich bin gespannt!
Frag dich, ob das, was du heute tust, dich näher dahin bringt, wo du morgen sein willst.