22 Mai – 08 Juli 2017
Das Einzige, was zählt, ist der Mut in unseren Herzen.
Die nächsten Wochen sind geprägt von viel Arbeit. Ich lerne meine Kollegen besser kennen mit ihren verschiedensten Lebensläufen, wie das in Restaurants so üblich ist. Gemeinsam bilden wir einen wild gemischten kulturellen Mix aus verschiedensten Ländern:


Hier ein kleiner Einblick, mit wem ich unter anderem arbeite:
- Troy, Assistant Manager: arbeitet im Service und an der Bar, aufgewachsen in Toronto, Familie aus Vietnam; sehr sensible Art, zurückhaltend, er liebt gutes Essen, meistens kommt er kauend aus der Küche
- Apo, Bartender: wirkt bei der Arbeit oft relativ emotionslos, hat aber seine lockeren Momente und wenn er von unternommenen Fahrradtouren erzählt, leuchten seine Augen. Vor ein paar Jahren verließ er Griechenland wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, vermisst seine Heimat, sieht dort aber gerade keine Optionen für sich und zieht Ende des Jahres weiter nach Australien, hat die Schnauze voll von den langen Wintern hier;
- Housnia aus Afghanistan, Bedienung: studiert Eventmanagement, finance etc, ehrlich und bestimmend, was in den ersten Tagen zu Spannungen zwischen uns geführt hat, jetzt mag ich sie jedoch umso mehr für ihre Offenheit.
- Neli, blutjunge Chefköchin mit ihren 23 Jahren: Familie kommt aus Bulgarien, arbeitet passioniert fast rund um die Uhr, ihr Herz hängt in Costa Rica.
- Mira, Bedienung, ist ihre beste Freundin, ebenfalls aus Bulgarien, Studentin, sehr herzlich, das Küken unter uns, amüsiert mich in unseren geneinsamen Schichten mit ihren erleuchtenden Erfahrungen im Bett mit ihrem Freund
- Johnny, Sous Chef: Familie aus Kolumbien, wenn er zu ernst wirkt, stimmt was nicht, gibt mir jeden Tag Kosenamen und Komplimente und kann nicht anders als mit kolumbianischen Charme zu flirten
- Deepak, Dishwasher: kam vor knapp zwei Jahren aus Indien um hier Agrarwissenschaften zu studieren, hat einen klaren Plan für sein Leben und will in spätestens zehn Jahren zurück und Lebensmittel anbauen,
- Steven und Tyrone, Manager des Restaurants: kommen aus Sri Lanka, leben aber schon ewig hier, beide haben Familie. Tyrone reißt die derbsten Witze, flucht gerne und kocht selbst mit Leidenschaft, seine vier Kinder kommen regelmäßig zum essen und jedes Mal spüre ich seine Liebe zu ihnen. Steven hat selbst noch zwei andere Restaurants und ist daher nur zweimal die Woche da. Er wirkt auf mich emotional, warmherzig und hat manchmal einen Blick wie ein kleiner erstaunter Junge.
Wenn ich nicht gerade arbeite, fühle ich mich mehr und mehr allein, mir fehlen vertraute Menschen in der Routine. Frage mich, wie lange ich das noch aushalte – ist nicht gut für’s Herz. Sonstige Entwicklungen:
- Aishah öffnet sich mir gegenüber und erzählt von ihrer Vergangenheit, kann sie jetzt besser verstehen und hab von Anfang an gespürt, wie tiefsinnig sie ist.
- Eric postet seit über einem Jahr wieder auf Facebook. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, er ist verliebt, aber wahrscheinlich kann er das Leben einfach endlich wieder von der schönen Seite sehen.
- Ich mache einen Tag Vertretung an der deutschen Schule hier. Nach der ersten Stunde ist direkt klar, verlernt hab ich nichts und besonderer ist das hier auch nicht. Meint man ja manchmal, weil es im Ausland ist. Die tägliche Arbeit bleibt jedoch die gleiche und nach dem Tag bin ich froh, dass es nur ein Tag war: zu klein, zu lahm, eintönig.
Außerhalb der Arbeit unternehme ich dennoch das ein oder andere:
- Fahrradtour mit Benjamin entlang des Canal Lachine mit veganem Eis zur Belohnung am Ende. Tut verdammt gut der Tag!
- Kirsten (auf ihre Hochzeit gehe ich Anfang August) lädt mich auf eine Vernissage ein: interessante Bilder, danach gehen wir spontan mit ein paar Besuchern essen und ich fühle mich in einer falschen Welt: die Dame mir gegenüber erzählt von ihrer Magenverkleinerung und künstlichen Wimpern – ernsthaft?
- Ben und ich schaffen es endlich ins Kino: der neue Trainspotting Film und ich muss sagen, gut gelungen!
- Dinner mit Eric: es geht ihm definitiv besser, er lebt wieder mehr.
- 1.Juli ist Canada Day: ich fahre mit Deepak und zwei seiner Freunde nach Ottawa, da dort die 150 Jahre Jubiläum groß gefeiert werden – ich machs kurz: was für eine Zeitverschwendung! tausende Menschen, viel Warterei, laut, stressig, touristisch. letztendlich entkommen wir den Massen mit einem Spaziergang entlang des Kanals für eine Weile.
Meine Stimmung war selten so am Boden wie nach diesem Tag und ich komme mit einem schrecklich traurigen Gefühl zuhause an, bin den Tränen nahe. Aishah geht heute Abend im Le Bleury tanzen, da schließe ich mich ohne lange zu überlegen an, brauche jetzt etwas Positives. Eine gute Stunde tanze ich den Stress aus meinem Körper und liege nach drei Uhr morgens nachdenklich im Bett.
- Für den Sonntag hatte ich Deepak bereits zugesagt, mit Segeln zu gehen. Er unternimmt einiges, was über ‚meet up‘ organisiert wird. Eine soziale Plattform, die dazu dient, Menschen mit ähnlichen Interessen zu verbinden und gemeinsame Aktivitäten aller Art zu unternehmen. Die Auswahl derartiger Apps und Websites ist mittlerweile unendlich: man kann sich zum gemeinsamen Kochen, essen, Sport treiben oder Sprachen lernen treffen. Ja, nach wie vor auch zum Sex. Zurück zum Segeln: wir fahren am Vormittag auf die Insel Saint Bernard, segeln eine Stunde bei viel Wind, ideale Bedingungen, aber scheißekalt!
Danach schlägt Toni, er lebt hier, vor, nach unserem Picknick noch einen Spaziergang über die Insel zu machen. Sicher drei Stunden sind wir unterwegs, der Himmel klart auf, wir kommen an traumhaften Aussichtspunkten vorbei, immer nah am Wasser und lassen uns schließlich auf ein Bier nieder neben Apfelbaumfeldern. Bei dem Anblick kann ich nicht anders als an meine Heimat denken: die Tage mit den Großeltern im Kraichgau in den Bäumen und im Jutesack das reife Obst sammeln, Spaziergänge durch unser Heimatdorf Dühren, Weinfeste in der Pfalz.
Sonntagsausflug mit Deepak

Jazz-Festival: ganz groß hier! Mit Deepak gehe ich auf die Eröffnungsfeier und genieße die Musik der Band Frantic Electric.

Überhaupt ist Montreal voll von Festivals, kulturellen Events, Parties, Ausstellungen, Grand Prix,… man kommt nicht umhin, manches sausen zu lassen, das Angebot ist einfach zu riesig! Dieses Jahr übertrifft die Normalität wegen der 375 Jahre Montreal. Wahnsinnige eine Billionen Dollar gibt das Land hierfür aus – nobel geht die Welt zugrunde.
Innerhalb einer Woche machen mir sowohl die Deutsche Schule als auch eine Sprachschule ein Jobangebot: alles, was ich damals mit Eric angegangen bin, ist jetzt greifbar und doch so unattraktiv für mich. Er meint, ich soll mir das gut überlegen: kommt gut im Lebenslauf und ist ja nicht für immer. Sehe zwar keine Motivation für mich, bin aber bereit, das ein paar Tage sacken zu lassen und komme zu folgendem Schluss: die Lebenserfahrung, die ich beim Reisen sammle, ist mehr wert als jeder Job. Arbeit ist im Endeffekt überall gleich – same shit different place – und für meine Arbeit brauche ich keine Erfahrung woanders. Ich begleite Menschen auf ihrem Weg ins echte Leben – was kann es da besseres geben als was ich mache? Reisen ist die wahre Herausforderung, die anerkennenden Blicke, die ich dafür ernte, sprechen Bände. Da meine Einsamkeit und Sehnsucht nach dem Süden sich mittlerweile schwer auf mein Herz gelegt hat, entscheide ich Ende Juli abzureisen. Tyrone bittet mich, doch noch ein paar Wochen länger zu bleiben, dem Restaurant auf die Sprünge zu helfen. „The people really like you, Sarah“ Steven fragt mich an einem ruhigen Montag auf der Arbeit: „Have you experienced a Montreal love so far?“ Ich antworte mit sehnsüchtigem Blick und tiefem Seufzer: „I wish I did.“ Er kann es kaum fassen: „What?? We have to go out, Sarah. You can’t leave Montreal without a Montreal love!“ Zehn Tage später ist es soweit und Steven fordert für Samstagabend zu einer goodbye party für mich auf. Die Mädels sind heiß, Troy und Apo bleiben fern, sind müde; vielleicht wollen sie mir auch nicht die Tour vermasseln. Die Mission heute nacht: find a guy for Sarah. Kaum downtown in der Bar Joverse nahe des alten Hafens angekommen, bestellt Mira für jeden zwei Shots. Keine fünfzehn Minuten später tanzt mich ein großer muskelbepackter Typ an, nachdem ich gerade erst zu Housnia meinte, die Männer wären zu klein hier. Voll von sich überzeugt, geht der Typ schnell zur Sache, knutscht mich ab und packt mich am Hintern – woouu… ist mir definitiv ne Spur zu aggressiv, aber als ich die Mädels und Steven hinter mir jubeln höre, spiele ich mit und muss grinsen, während mir mein Gegenüber seine Zunge in den Hals steckt. Dann entschuldigt er sich kurz auf die Toilette, ich dreh mich um und schau in strahlende beeindruckte Gesichter. Wir lachen uns an, ich zucke mit den Schultern und dann steht auch schon Many neben mir, stellt sich vor, nimmt mich bei den Händen und will mit mir tanzen. Die Mädels bekommen große Augen und ich antworte mit unschuldiger Miene. Ich wage keinen Blick Richtung Bad, Housnia erzählt mir später vom überraschten Gesicht des Draufgängers. In den nächsten zwei Stunden weicht Many nicht von meiner Seite, wir tanzen und unterhalten uns. Er kommt aus Benin, ist seit vier Jahren hier in Montreal und hat zuvor in Paris studiert. Bevor wir uns verabschieden, fragt er nach meinem Facebook Kontakt und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Nach diesem Abend fühle ich mich mit den Mädels verbunden und gar nicht mehr so einsam. Ich spiele mit dem Gedanken, doch ein paar Wochen länger zu bleiben: die Kohle kann ich gut gebrauchen, nachdem ich hier ein paar teure Zahnarztbehandlungen über mich ergehen lassen habe. Zumindest null auf null hier weggehen, ist eine Überlegung wert. Bin hin- und hergerissen und beschließe, das mit Carola, meiner Freundin in der Nähe von Washington DC zu besprechen, da sie mein nächstes Ziel ist. Da ich beginne, mich wohl zu fühlen, kann ich die Stadt vielleicht auch mehr genießen. Mein Französisch ist endlich auch wieder flüssig. Der Ruf nach Lateinamerika ist allerdings nach wie vor präsent und ungebrochen.