06 – 23 Dez 2017
Etwas aufgeregt und in Vorfreude, geliebte Menschen wiederzusehen, lande ich am Mittwoch Mittag in Frankfurt. Ich nehme die S-Bahn in die Innenstadt, Haltestelle Konstablerwache und laufe von dort zu meiner Freundin Franzi, sie wohnt mit Freund und Kind direkt am Dom. In zwei Wochen wird sie den Bund der Ehe eingehen, was für mich erster Anstoß war, einen Besuch in der Heimat in Erwägung zu ziehen. Meine ersten Eindrücke nach fünfzehn Monaten weit weit weg: graues Wetter, was sich in den nächsten Wochen nicht groß ändern wird, im Zug und an den Haltestellen wird nur geschaut, aber nicht miteinander gesprochen. Mit meinem Rucksack gehe ich entlang vertrauter Straßen – wie unverändert doch alles geblieben ist! Ich muss innerlich schmunzeln bei dem Bild, das ich abgebe: abgewetzte Sommerturnschuhe, 3/4 Leggins, zu dünne Jacke, auf dem Rücken mein riesen Backpack und vorne der kleine Rucksack umgeschnallt – was für ein seltsames Gefühl im Reisemodus zuhause unterwegs zu sein.
Meine erste Woche ist durchgetaktet, kaum da, fragen alle, wann sie mich sehen, was mich fast schon in Stress versetzt. In weiser Voraussicht hatte ich außer engster Familie (allein das sind ja schon an die zwanzig) und wenigen Freunden niemandem von meinem Besuch erzählt und will spontan entscheiden, wen ich noch überrasche. Dass nicht genug Zeit bleibt für alle, die mir wichtig sind, ist mir schnell klar und stimmt mich etwas traurig. Bilder schieße ich übrigens kaum welche, daher habe ich hier ein paar alte Erinnerungen rausgekramt!
Nachdem ich also alle zwei Nächte den Schlafplatz wechsle (Frankfurt, Sinsheim, Karlsruhe), schlage ich nach einer Woche meine Basis bei meinen Freunden Vera und Rainer in Ludwigshafen auf. Kennengelernt durchs Volleyball sind die beiden zu sehr engen Freunden geworden und sie hatten mir von Anfang an angeboten, das Gästezimmer zu beziehen, was sich jetzt als sehr praktisch herausstellt: nichts ist weiter als 100km entfernt, meine Kleider lagern hier, was bedeutet, dass ich mich durch mein Zeug wühlen kann (was man alles hat und nicht braucht), mal wieder mehr als meine fünf T-Shirts zur Auswahl habe und für die Weiterreise austauschen kann. Ganz abgesehen davon fühle ich mich bei und mit Vera und Rainer pudelwohl, ich lebe mich schnell ein, das Zusammenleben mit den beiden und Rainers erwachsenem Sohn Paul macht Spaß. Nach einer lustigen Episode im geneinsamen Frankreichurlaub nenne ich (la fille) die beiden auch oft liebevoll Papa et Maman. Ich werde zu hundert Prozent ins Familienleben integriert und dementsprechend stellt sich schnell ein Gefühl von nach Hause kommen ein, wenn ich den Schlüssel im Schloss drehe und ihr Haus betrete.

Ich treffe Freunde, meine Eltern, Geschwister, spiele auf einem Volleyballturnier mit, Junggesellinnenabschied, Hochzeit. Sogar auf einen Weihnachtsmarkt schaffe ich es einmal. Ein Auto von der Familie habe ich auch zur Verfügung, ginge gar nicht anders. Viele innige emotionale Begegnungen, bedeutungsvolle Umarmungen, nach denen ich mich so gesehnt habe. Ich bin im hier und jetzt, genieße die physische Anwesenheit meines Gegenübers, die Gespräche, den Augenkontakt.


Anstatt im Detail von meinen einzelnen Begegnungen zu berichten, möchte ich eine kleine Liste mit euch teilen, welche Beobachtungen und Gedanken meine ersten zwei Wochen in der Heimat hervorgebracht haben:
- In ein oder zwei Jahren verändert sich zuhause wirklich nicht viel.
- Was sind all die Arbeit und Erfolg wert, wenn keine Zeit bleibt für Freunde, Familie, für sich selbst? Lebensqualität bedeutet Zeit zu haben für das, was das Herz bewegt, auf geteilte Erlebnisse zurückblicken zu können, nicht auf Titel oder durchgearbeitete Jahre. Wer hier gesunde Entscheidungen trifft, wirkt auf mich wesentlich energievoller, strahlender und zufriedener.
- Tiefe Freundschaften bleiben bestehen, man hat zusammen etwas kreiert, das von Zeit und Raum unberührt bleibt – Nähe und Verbundenheit stellt sich ein in dem Moment, in dem man sich wieder in den Armen liegt.


- Überraschungsbesuche machen Spaß! Ich blicke in gerührte, fassungslose Gesichter. Sie packen den Moment, lassen alles stehen und liegen und sind ganz bei mir. Ich habe Zeit für drei:
- Johanna, meine ehemalige Schülerin: eines Abends stehe ich einfach bei der Familie vor der Tür: sieben Jahre habe ich sie begleitet und währenddessen oft mehr Zeit miteinander verbracht als mit sonst irgendjemandem. Dementsprechend gut lernt man sich kennen, vertraut einander und noch heute wendet sich Johanna an mich, wenn ihr etwas auf dem Herzen liegt, was ich sehr schätze und mich in meiner Arbeit und meinem Wesen bestätigt.
- Anja, meine Freundin, Kollegin und Schwester im Geiste. Als sie am Nachmittag heimkommt, stehe ich schon im Haus – ihr Blick ist unbezahlbar!
- Besuch meiner ehemaligen Arbeitsstätte: ich stecke den Kopf in Klassenzimmer, wo ich bekannte Schüler vermute und freue mich besonders, sie zu überraschen und ein paar Kollegen zu sehen, die mir nahe stehen. Die Arbeit mit den jungen Menschen hat mir immer Spaß gemacht und fehlt mir zuweilen. Mit ihnen einfach mal kindisch sein, zeigen, dass man nicht immer alles ernst nehmen muss und es wichtigeres gibt als gute Noten.
- Ich mag Mannheim! Vierzehn Jahre habe ich in Mannem gewohnt bis die Reise begann. Meine Wohnung in der Schwetzinger Vorstadt wollte ich nicht aufgeben und wird gehütet von meinem Bruder Balthasar, der hier studiert. In diesen Tagen muss ich einiges hier erledigen und laufe gern durch vertraute Straßen um zu entdecken, ob alles noch so ist wie es war.

- Mein Bruder Minh und seine Frau Diemy bestehen darauf, dass ich am ersten Freitag zum Essen zu ihnen nach Bad Rappenau komme. Minh kocht wie immer hervorragend, heute selbstgemachte Langosch – und schon geht die Weihnachtsschlemmerei los! Wir reden bis spät am Abend und ich kann mich mit einem Lachen verabschieden, da wir uns an Weihnachten spätestens schon wiedersehen. Dann ab durch den Schnee, heute hat es heftig geschneit, zurück zu Mama und Papa, hier schlafe ich übers Wochenende.
- In meinem neunten Lebensjahr wurde Sinsheim-Dühren zu meinem Heimatdorf und jedes Mal, wenn ich mich der Gegend nähere und in die hügelige Landschaft des Kraichgaus blicke, verspüre ich dieses Gefühl, dass einem wahrscheinlich nur der Ort geben kann, den man Heimat nennt. Unsere Eltern leben nach wie vor in dem riesigen Haus, das unser Vater mit eigenen Händen gebaut hat und in dem ich mit all meinen Geschwistern groß geworden bin.


- Mama sieht gut aus! So klar, positiv, und voll Liebe. Total baff bin ich, wie perfekt sie mittlerweile Oma’s Rezepte nachbackt. Die Wendung, die sie hingelegt hat, ist erstaunlich: sie genießt ihre freie Zeit, ist jeden Tag aktiv, backt, kocht, geht auf Reisen und macht anderen wie gewohnt kleine und große Freuden, wo sie kann. Trotz der Ferne bin ich ihr durch emails und Nachrichten auf andere Weise näher gekommen. Sie bestärkt mich immer wieder in meinem Abenteuer, kennt und versteht mich und meine Sehnsucht.


Alt werden kann etwas Herrliches sein, wenn man nicht vergisst, was anfangen bedeutet.
- endlich kann ich mal wieder in aller Ruhe meiner Schwester Veronica zuhören wie es ihr wirklich geht, wie sie sich fühlt. Während ich weg war, hatten wir kaum Kontakt, was nicht leicht auszuhalten war, denn sie war vom ersten Moment meine große Schwester, meine Freundin, meine Komplizin.

- Mein Bruder Baldi: die Zeit getrennt voneinander hat uns beiden mit unserer bewegten gemeinsamen Vergangenheit gut getan (im Alter von acht Jahren kam ich mit meinem leiblichen Bruder Balthasar, er war damals drei, in die Familie Holder): keine Verantwortung, kein Druck, kein Schuldgefühl, keine Erwartung. Einfach nur sich selbst nachgehen. Er sieht gut aus und wirkt gefestigt. Ich bin gerührt, welch besonderen Menschen er in seiner Freundin Elena gefunden hat.

You deserve everything there is to give.
Breakfasts in bed.
Diamonds on your doorstep.
Little notes hidden everywhere.
I want you to have all my secrets
and all of my demons,
because you especially deserve
all the parts of me
I’m usually too afraid to share.
Beau Taplin. Demons
- Ein gefühlvoller Abend mit Schwägerin und Freundin Marina, Bruder David, seiner Schwester Meike und Frau Diana (ja, unser Familienbaum ist etwas ungewöhnlich und verzweigter), bei denen ich immer geherzt und geknuddelt werde. Marina erlebe ich das erste Mal als Mutter. Wir haben eine besondere Verbindung, oft vermisse ich sie und ihre besondere Art. David fragt mich, was ich anders machen würde, wenn ich zurückkomme. Alle blicken mich an und lauschen. Ich fühle mich geborgen, gut aufgehoben, im Kreise von Menschen, die ich liebe und schätze, die mich zum Lachen bringen. Genieße….


- Es ändert sich nicht viel, wenn man fünfzehn Monate weg war… aber man muss zurechtkommen mit der Tatsache, dass man das Leben mit seinen Auf und Abs von nahestehenden Menschen nicht mehr wirklich mitbekommt. Man wird meist vor Ergebnisse gestellt, bekommt eine Zusammenfassung, schafft keine neuen gemeinsamen Erlebnisse.
- Ich fühle mich noch geerdeter und entspannter.
So sehr ich doch meine Freunde und Familie vermisse, bin ich nicht bereit heimzukehren. Auch wenn oder gerade weil es der leichteste Weg wäre, mein Leben hier fortzuführen, ist mir der Gedanke zuwider, in bekannte Abläufe und Strukturen zurückzukehren. Alles ist so angenehm vertraut und doch fühle ich in manchen Momenten in mir eine ganz andere Welt, bin ganz weit draußen, hier fehl am Platz. Nach wie vor bin ich auf der Suche und angezogen von allem, was fremd ist. Nur so fühle ich mich wirklich lebendig. Gleichzeitig sehne ich mich nach einer Konstante. Diese innere Unruhe, Zerrissenheit, Getriebenheit – nennt es wie ihr wollt – stimmt mich manchmal traurig, einsam und verloren. Dennoch liebe ich den Weg, den ich gehe, bin zutiefst dankbar und vertraue darauf, dass die Dinge sich fügen.
Der sensible Mensch leidet nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern ganz allein, weil nichts auf dieser Welt seine Sehnsucht stillen kann. J.P. Sartre