17 -24 Dezember 2016
In der Beschreibung steht veganes Frühstück und vegetarisches Dinner, was mich natürlich neugierig macht und ich mir ein Bett in diesem Hostel gesichert habe. Müde von der Reise im Nachtbus teile ich mir mit einem anderen Backpacker ein Taxi – wir sind gerade echt zu kaputt vier Kilomenter zu laufen oder abzuchecken wie und wann die Busse fahren. Wir steigen die steilen Stufen zum Eingang hinauf. Ein Typ mit Fukohila-Frisur öffnet uns die Tür, rechts geht es gleich über in einen gemütlichen Wohnbereich mit großem Esstisch, Sofas und einer Fensterfront, wirkt auf mich wie eine Art Wintergarten. Mein Taxifreund fragt nach einem freien Bett, aber alles voll. Ich will einchecken und dann heißt es auf einmal „eh, we gave your bed to someone else“. Na toll, fängt ja gut an! Dazu sagen muss ich, dass ich meine Reservierung telefonisch geändert habe (‚yes sure, no problem. Just come on Saturday‘). Jezt kann ich auf einmal nur eine Nacht anstatt vier bleiben und das Bett ist auch noch teurer. Da ich meine Pläne eh geändert hab, ist die eine Nacht ok und auf die zwei Euro mehr kommts jetzt auch nicht an. Das Viererzimmer ist winzig und das Mädel, das ich dort antreffe, hat sich auch noch voll ausgebreitet. Eine Nacht, Sarah…Alle finden das Hostel totaaal toll, alles hipster und so, aber ich spürs nicht. Mittlerweile brauch ich nicht mal zwei Minuten um die Schwingung in einem Hostel wahrzunehmen und zu wissen, ob ich mich hier gut fühlen werde. Ich stelle mein Zeug ab, gehe wieder runter ins Wohnzimmer und logge mich im wifi ein (übrigens eins der Hauptkriterien heutzutage). Muss mich noch um ein Fahrrad kümmern, da ich eine Tour machen will entlang der Ruta 40 durch sieben Seen, von der alle schwärmen. Das Angebot, das ich bisher habe, erscheint mir aber zu teuer. An der Rezeption verweist man mich nur an die gleichen Leute. Da ich heute eh nichts mehr geregelt bekomme, skype ich mit Meike und Diana und lande mal wieder bei dem Thema, wie mein Leben aussehen soll. Weiter hinten im Raum sitzt ein blonder Mann mit Bart am Laptop und ich hab das Gefühl, dass er zuhört und mich versteht, da er ab und zu schmunzelt und zustimmend nickt: Carsten aus Hanover. Er hat seinen Bankjob gekündigt, war zwölf Jahre in einer Beziehung und fährt seit drei Monaten mit dem Fahrrad durch Südamerika. Fünfundzwanzig bis dreißig Kilo (mit Essen) hat er dabei. Den europäischen Sommer hat er bei Freunden im Surfhostel in Portugal verbracht und dort ausgeholfen. Nach der Reise wird er wieder nach Portugal gehen und kann dort auch im Hostel mit einsteigen und die Finanzen übernehmen, ganz zu schweigen davon, dass er dort das Meer vor der Tür hat und jeden Tag surfen kann.
Carsten hat eine erfrischende Art und vor allem ein ansteckendes Lachen. Er versichert mir, dass ich morgen in La Angostura (mein nächstes Ziel) ganz sicher ein Fahrrad für weniger Geld finde. Er zeigt mir den nächsten Supermarkt, ich bereite mein Abendessen zu und teste dann mit Carsten das Bier in den Kneipen in unserer Straße. Nach dem Frühstück am nächsten Tag führt er mich durch Bariloche, die Weihnachtsdeko ist übrigens ziemlich traurig, wir sitzen auf einer windgeschützten Parkbank in der Sonne, trinken Kaffee und chillen im Hostel.
Carsten genießt es mal wieder auf deutsch tiefgründigere Gespräche führen zu können. Er ist ein wirklich guter Zuhörer und für mich einer dieser Menschen, die so klar wirken, eine konkrete Vorstellung davon haben, was sie wollen und wie sie das praktisch umsetzen. Gleichzeitig zeigen mir diese Menschen immer auf, was mir fehlt und wie ich sie um diese Klarheit beneide.
Am späten Nachmittag ist es Zeit für mich zu gehen; ich füge Carsten als facebook Freund hinzu, ein gemeinsames Foto, eine Umarmung und los zum Busbahnhof. Dort warte ich ungeduldig über eine Stunde auf den Bus, denn es herrscht schreckliche Depristimmung. In La Angostura holt mich Carlos ab, bei dem ich eine Nacht schlafen werde. Im Auto wartet sein Freund und dessen zwei Couchsurfer. Wir fahren zu seinem Freund, der etwas außerhalb am Waldrand in einem stilvoll eingerichtetem Haus lebt und werden verwöhnt mit hausgemachter Pizza und gutem Rotwein. Irgendwann greift der Gastgeber zur Gitarre und gegen zwei Uhr morgens fallen mir fast die Augen zu.
Als ich am nächsten Tag in den Ort laufe, um mir ein Fahrrad zu mieten, ist es schon fast Mittag, aber ich werde fündig: anstatt meinen großen Rucksack an meinen Zielort bringen zu lassen, miete ich einen Anhänger dazu. Ich bin skeptisch, ob das zusätzliche Gewicht die ohnehin anspruchsvolle Strecke nicht zu schwer macht, doch der Besitzer des Fahrradverleihs meint, das wäre halb so wild. Außerdem schauen wir uns die Strecke auf der Karte an und er zeigt mir, wo ich übernachten kann. Damit ihr eine Vorstellung über mein Vorhaben bekommt, hier mal ein paar Eckdaten: 110km in zwei Tagen, Übernachtung auf einem Campingplatz auf halbem Weg (Zelt hab ich keins, aber eine Nacht geht angeblich auch ohne), die Strecke ist asphaltiert, geht nonstop auf und ab und bietet traumhafte Landschaften inmitten von sieben Seen, die der Gegend ihren Namen geben.
Ich esse noch mit Carlos zu mittag und relativ überraschend kommen wir auf meine Wünsche und Ziele im Leben zu sprechen. Ist nicht ganz einfach für mich, das ganze auch noch auf Spanisch auszudrücken und ich bin etwas frustriert wieder zu spüren, dass ich nicht weiß, wohin mein Weg konkret führen soll. Carlos hört jedoch sehr aufmerksam zu und scheint angetan. Jetzt ist es fast ein wenig schade, dass ich schon aufbrechen muss, aber wenn ich jetzt nicht losfahre, wird es dunkel bevor ich ankomme. Ich drücke Carlos und schwinge mich aufs Rad, begleitet von gemischten Gefühlen: Respekt vor der Strecke, anstrengende hundertzehn Kilometer- warum mach ich das eigentlich?
Die Gegend wirkt teilweise wie gemalt, wirklich wunderschön. Relativ schnell merke ich, dass der Anhänger mit Rucksack sehr wohl einen riesen Unterschied macht. Es geht scheinbar ewig stetig bergauf. Aber ich bin fit, meine Beine muskulös, du kannst das, Sarah. In den ersten dreißig Kilometern mache ich kurze Pausen um Fotos zu machen. Wenn es bergab geht, denke ich allerdings schon wieder an den nächsten Anstieg.
Dann fängt mein Knie leicht an zu zwicken. Ich lege eine Essenspause ein und fange an zu rechnen: zwanzig Kilometer, zwei Stunden noch, dann wird es auch bald dunkel werden. Bis zum Campingplatz in der Mitte muss ich kommen. Als ich wieder aufs Rad steige, ist der Schmerz direkt wieder da. Ich erinnere mich an das Ende meiner letzten Tour. Außerdem kann ich kaum sitzen, der Sattel tut weh. Mit jedem Kilometer sticht der Schmerz heftiger und mich verlässt nach und nach die Zuversicht, die ganze Strecke zu schaffen. – Warum machst du das? Wem willst du was beweisen? Scheiß Anhänger, allein der wiegt sicher fünf Kilo. So kannst du morgen niemals weiterfahren. Aber mit dem ganzen Zeug kann dich auch nicht jeder mitnehmen, ganz davon abgesehen, dass kaum Verkehr ist. – Während ich mich Meter um Meter den Berg hochkämpfe, meine körperliche Erschöpfung spüre und der Schmerz langsam unerträglich wird, schießen mir Tränen in die Augen und wie ein kleines Mädchen, das nicht heulen will, wimmere ich vor mich hin. Hier ist nichts, nur Natur, ab und zu mal ein Auto, absolute Stille der Natur. Ich halte an, stütze meinen Kopf auf meine Hände am Lenker und fange laut an zu heulen, schreie, kann nicht mehr…….so stehe ich da, mutterseelenallein und heule einfach nur alles hinaus. Zum ersten Mal in dieser ganzen Zeit habe ich eine starke Sehnsucht nach zuhause, möchte von meinen Freunden in den Arm genommen werden. Ich vermisse meine vertrauten Menschen, bin an meinem persönlichen Tiefpunkt.
Was jetzt? Fragt mich nicht wie, aber total fertig komme ich am Schild zum Campingplatz, der nochmal vier Kilometer waldeinwärts liegt, an. Option 1: auf dem Camping schlafen und mir den Arsch abfrieren, von wegen eine Nacht geht – die Sonne ist schon weg und es ist kalt. Option 2: Hotel – hab eins gesehen in der Nähe, bestimmt arschteuer. Option 3: jemanden finden, der mich nach San Martin de los Andes fährt. Ein älterer Mann im Kombi hält an und fragt, ob er helfen kann. Nachdem ich ihm meine Situation geschildert habe, fragt er, ob ich verrückt bin: ganz allein, 110km, ohne Zelt, was ich mir gedacht habe. Ich muss mich zusammenreißen, könnte grad wieder losheulen. „Hör zu, ich warte, bis mein Sohn und Enkel von ihrer Tour zurück sind, dann schaue ich, ob du noch da bist.“ Über eine Stunde stehe ich in der Kälte, bewegungs- und handlungsunfähig, halte den Daumen raus, wenn ich einen Van oder Pickup sehe, aber keiner hält an, es wird immer dunkler. Es ist fast halbzehn als der Mann zurückkommt, das Rad aufs Dach schnallt, mich mit all meinen Sachen einpackt und fragt: „Wo willst du hin?“ Als wir gegen halb11 in San Martin ankommen, ist es stockdunkel. Mein Couchsurfer Leonel empfängt mich ganz spontan eine Nacht früher, ich bekomme was Warmes zu essen, nehme eine heiße Dusche und falle völlig erschöpft ins Bett.
Am Dienstag gebe ich das Fahrrad ab, koche für Leonel, laufe durch den Ort, es fängt an zu regnen und treffe mich über Couchsurfing zuerst mit Xavier, auch ein Reisender, auf ein Bier. Er ist aus Frankreich, hat seinen Bürojob vor zwei Jahren gekündigt und betreibt jetzt einen Fahrradverleih am Atlantik. Abends besuche ich Pablo, bei dem ich auch hätte schlafen können und wir machen zusammen Pizza.
Ich fühle mich nicht gut. Die Tage vergehen und ich habe keine überragenden Erlebnisse, kann es kaum abwarten am 24. nach Buenos Aires zu kommen. Das kalte und regnerische Wetter hier ist auch nicht hilfreich; ich brauche wieder Wärme und Leute um mich, mit denen ich mich verbunden fühle, hab gerade die Schnauze voll von Bergen und Seen. An meinem letzten Tag bei Leonel machen wir noch einen Spaziergang zum Aussichtspunkt des Ortes und abends läd er Freunde ein, es gibt mal wieder Pizza und wir spielen Karten und das Rollenspiel Werwolf, was ich dank meiner Schüler schon kenne und mich außerdem etwas ablenkt.
Donnerstag früh treffe ich mich in einem kleinen aber feinen Café mit Xavier. Wir sitzen auf den Holzbänken und ich genieße die Sonne im Gesicht. Heute trampen wir zurück Richtung Bariloche und ich bekomme die ganze Strecke bei Tageslicht zu sehen.
Wir lassen uns auf halbem Weg absetzen um uns zwei Seen genauer anzuschauen. Das Trampen läuft problemlos und bevor wir uns in Bariloche verabschieden, trinken wir noch ein letztes gemeinsames Bier.
Gegen sechs Uhr abends komme ich bei Nahuel an. Ein wahrer Sonnenschein öffnet mir die Tür. Sein Haus hat positive Energie und ich fühle mich sofort total wohl. Bei einem Kaffee nähern wir uns einander an, verdammt strahlend blaue Augen hat er! Nahuel ist Anfang vierzig, Single, Guide für Berge und Ski, hat einen Sohn und ein großes gutes Herz.
Am Abend nimmt er mich mit zu seinem Freund Fabian, der in einem urigen Haus am See wohnt. Dort treffen wir neben ihm auf seine zwei Söhne und einen weiteren Freund. Wir kochen und essen gemeinsam, trinken Wein und Fabians charmant verrückte Art erinnert mich an meine Freundin Helga: wie er durch Papierstapel blättert, mir Zitate aus Büchern zeigt, ein Auge für Kleinigkeiten hat und der Satz ‚das macht man so‘ für ihn sicher ein Fremdwort ist.
Als wir alle schon ziemlich beschwipst sind, dreht er die Musik auf, macht das Licht aus, gibt jedem eine Sonnenbrille und bei Diskolicht aus einer Taschenlampe tanzen wir in seinem Wohnzimmer. Ich hab ein Lachen im Gesicht. Schön, dass es solche Menschen gibt – Fabian ist einfach er selbst, ganz ohne auferlegte Regeln so vollkommen anders als die Norm und dadurch herrlich erfrischend.
Zurück zuhause nimmt mich Nahuel feste in den Arm, was unglaublich gut tut. Ich fühl mich momentan ganz verletzlich und er geht sehr sensibel damit um.
Nach dem Kaffee am nächsten Morgen gehe ich joggen und Nahuel muss einkaufen. Morgen führt er eine reiche amerikanische Familie durch die Berge und dann gibts ein fancy Picknick. Später kochen wir gemeinsam und erzählen uns dabei von unserer letzten Beziehung und wie diese unser Leben verändert hat.
Am Abend erlebe ich ein kleines Abenteuer mit ihm: wir fahren zum nahegelegenen See, legen uns ins Gras und trinken ein Bier während wir in die sich neigende Sonne schauen. Dort treffen wir auf einen seiner Freunde, fahren an ein anderes Ufer, wo sie ein altes Schlauchboot zu Wasser lassen und ich mit vier Jungs über den See brettere. Meine Versuche trocken zu bleiben, gebe ich schnell auf, da ich nach zehn Minuten komplett durchnässt bin und mit schwindender Sonne wird mir immer kälter, was ich gar nicht mehr lustig finde. Nahuel schaut mich mit prüfendem Blick an und als ich dann das Wasser im Boot und die schelmischen Jungs ansehe, muss ich doch schon wieder lachen. Wir halten an einer Stelle, wo die letzten Sonnenstrahlen das Ufer erreichen, zwei der Jungs flacken sich ins Gras und wir teilen uns ein Bier. Mir gefällt die Zufriedenheit der Jungs mit so einfachen Dingen. Ich zittere am ganzen Körper und wir machen uns endlich auf den Rückweg.
Zuhause beschert mir Nahuel dann den perfekten Abend: während ich heiß dusche, kocht er Gemüsesuppe. Diese und der Rotwein wärmen mich von innen, im Rücken die Heizung, könnte ich mich gerade nicht wohler fühlen. Wir leeren die Flasche und legen uns schlafen.
Das Universum schickt uns genau die Menschen, um die wir bitten, die uns etwas lehren, die uns helfen zu heilen.
Mit einem tiefen Blick in die Augen und einer festen Umarmung muss ich mich am Morgen des Heiligabend von Nahuel verabschieden. Ich trampe zum Busbahnhof und nehme dort den Bus zum Flughafen, denn heute fliege ich nach Buenos Aires.