21 – 25 Nov 2016
Schweren Herzens verlasse ich am Dienstag früh Curitiba. Aber es ist richtig jetzt zu gehen, erst andere Orte zu sehen und dann zurück zu kommen. Ansonsten bleibe ich noch ewig hier hängen und sehe nichts von dem, was ich mir vorgenommen habe.
Die Fahrt nach Florianopolis, kurz Floripa, vergeht recht schnell, da ich eine Mitfahrgelegenheit über blablacar habe. Wir sind zu dritt im Auto und unterhalten uns die meiste Zeit, was mich außerdem nicht in absolut traurige Stimmung verfallen lässt. Diese kommt dann aber schnell und heftig als ich nach weiteren zwei Busfahrten im Hostel ankomme. Es liegt an einem kleinen abgelegenen Strand, man kann aufs Meer blicken und hört die Wellen rauschen. Hört sich sehr idyllisch an, kann ich aber gerade gar nicht gebrauchen.
Ich bin müde, vermisse Curitiba, das Hostel und die Menschen dort. Impulsartig schaue ich auf Couchsurfing nach Gastgebern und schreibe ein paar Leute an in der Hoffnung, dass sich spontan etwas für morgen ergibt. Ich spüre den Kloß im Hals, mir schießen die Tränen in die Augen, ich verdrücke mich aufs Zimmer, in dem sich zum Glück gerade keiner aufhält und kann mich nicht mehr zurückhalten. Nach zehn Minuten reiße ich mich zusammen und sage mir, dass sich so auch nichts ändert – ich muss was tun! Also schaue ich nach anderen Hostels und sage hier Bescheid, dass ich morgen gehe. Dann mache ich mich auf den Weg in den Ort, laufe am Strand entlang, kaufe Gemüse fürs Abendessen und eine Flasche Bier.
Während ich meinen Salat vorbereite und mir das Bier gönne, antwortet mir Isaac über Couchsurfing. Er sagt mir zu! Yes, geht doch! Jetzt kann ich den Abend wesentlich entspannter verbringen. Ich plaudere mit einem Typ aus der Schweiz, will dann einen Film aus der Sammlung des Hostels schauen – mit dem Abspann wache ich auf und merke wie kaputt und übermüdet ich bin. Ich wandere ins Bett und stelle mir den Wecker fürs Frühstück.
Nur wenn wir selbst aktiv werden, kann sich wirklich etwas ändern.
Treffpunkt mit Isaac ist an der Uni, wo er arbeitet und gerade seinen PHD macht. Ich habe eine Stunde Zeit und warte in einem Innenhof mit Cafeteria, viel grün und fixierten Tischen und Stühlen aus Stein. An einer dieser Sitzgruppen lasse ich mich nieder und beobachte das Treiben um mich herum: Studenten und Dozenten durchqueren den Hof auf ihrem Weg von oder zur Vorlesung, zur Mittagspause oder vielleicht auch in den Feierabend. Der Außenbereich der Cafeteria ist voll besetzt, egal ob auf den Plastikstühlen oder am Boden, im Gras vor mir sitzt ein lachendes Paar, küsst sich und genießt die Mittagssonne. Ich mag die Atmosphäre hier. Als Isaak pünktlich den Platz betritt, erkenne ich ihn schon von weitem: groß, schlank, breite Schultern, sportlich- mit einem Lachen im Gesicht kommt er auf mich zu und begrüßt mich ganz herzlich mit einer Umarmung und Kuss auf die Wange. Er trägt Sonnenbrille und ich kann nur schwer einschätzen, wie alt er eigentlich ist – würde aber wahrscheinlich sowieso daneben liegen, da die Schwarzen unverschämterweise einfach nie älter als fünfundzwanzig aussehen, was sich später auch bestätigt. Isaacs Kommentar dazu: ‚black don’t crack‘. Ja, hab ich schon mal gehört. Er erklärt mir, wie ich zur Wohnung komme, gibt mir die Schlüssel, drückt mich nochmal und muss auch gleich weiter. Dank zusätzlicher Beschreibung per whatsapp finde ich Straße und Haus auf Anhieb. Die Wohnung hat zwei kleine Zimmer, Wohnküche und Bad. Ich mache mich kurz frisch und nutze den Rest des Nachmittags um mir die Altstadt anzuschauen, wo es aber nicht viel zu sehen gibt – total unspektakulär bis hin zu langweilig und stressig.
Während ich dusche, kommt Isaac nach hause. Als wir uns sehen, drückt er mich wieder wie bei unserer ersten Begegnung – genau das tut gerade sehr gut. Isaac ist 32, hat Computer Science studiert und macht gerade seinen PHD. Er wohnt allein, hat eine Schwester, kommt aus Salvador und wohnt seit fünf Jahren in Floripa. Ziemlich schnell finden wir uns in tiefen Gesprächen wieder, währenddessen beginnt Isaac zu kochen und ich kann kaum glauben, was er mir schildert, als ich ihn frage, welche Rolle Rassismus in Brasilien spielt. Die Erlebnisse, von denen er berichtet, berühren und schockieren mich zugleich. Ich dachte, in so einem gemischten Land wie ich es zuvor noch nie gesehen habe, lägen die Dinge vielleicht anders.
- Er wird im Geschäft oder Restaurant oft schlechter und mit abwertender Gestik und Mimik behandelt
- Manchmal wechseln Menschen, die vor ihm laufen, aus Angst die Straße
- Als Kinder werden er und seine Schwester beim Schwimmen beschimpft: „go away, you dirty the water“
- In der Uni in Salvador, dessen Einwohner zu neunzig Prozent schwarz sind, ist außer ihm in seinem Jahrgang nur ein weiterer schwarz von insgesamt vierzig.
- Im ersten Jahr wird er von seinen Kommilitonen von fast allen Parties und Aktivitäten ausgeschlossen, nachdem er sich als Einziger als Befürworter für eine Schwarzenquote einsetzt.
In was für einer Welt leben wir eigentlich?….die Welt hat sich teilweise kein bisschen geändert. Auch wenn ich dieses Thema oft mit meinem Exfreund diskutiert habe, verdeutlicht mir Isaac die Realität auf eine Weise, welche mir klar macht, wie wichtig die Erinnerung an die Geschichte ist. Zu viele Menschen machen Unterschiede, daher dürfen wir nicht so tun als gäbe es keine. Wir müssen Bewusstsein schaffen für diese Ungleichheiten.

Am nächsten Tag mache ich einen Ausflug in den Süden der Insel. Ich hike zu Isaacs Lieblingsort, Lagoinha do Leste – fünf Stunden hiken, klettern, steigen, springen – viel Zeit zum Nachdenken und Fühlen -überragende Aussicht! Gegen Ende bin ich ziemlich erschöpft und fantasiere von gekühlter Apfelschorle.
Auf dem Heimweg besorge ich noch Gemüse fürs Abendessen, ich möchte für Isaac kochen. Er ist schon da und übt in seinem Zimmer Gesänge für Capoera. Ich schwinge mich direkt unter die Dusche! Isaac assistiert mir in der Küche und ist später ganz begeistert von meiner Tomatenmango-Soße, wir führen unsere intensiven Gespräche fort, trinken gutes Bier und vertrauen uns so einiges an. Ich mag ihn echt gern – er hat ein gutes Herz und drückt aus, was er fühlt. Erst gegen Mitternacht werden meine Augen müde und ich spüre die schweißtreibenden Stunden des Tages. Wir wünschen uns eine gute Nacht und ich falle erschöpft ins Bett.
Mein letzter Tag in Brasilien bricht an – bei dem Gedanken wird mein Herz ganz schwer. Ich stehe mit Isaac auf und nach dem ‚Good morning‘ meint er: „bist du sicher, dass du schon gehen willst? Kann das nicht noch ein paar Tage so weitergehen?“ Das macht den Abschied nicht wirkich leichter, aber ich bin gerührt von seiner Offenheit und dass er gerne mehr Zeit mit mir verbringen würde. Wir machen noch ein Selfie und der Gute ist schon am Morgen zu Scherzen aufgelegt.
Zehn Tage wollte ich in Brasilien verbringen – fast drei Monate bin ich geblieben. Das Land hat mich überascht und fasziniert, völlig ohne Plan oder Erwartungen bin ich drauf los, hab noch so viel nicht gesehen, Menschen, die ich wiedertreffen möchte, Orte, die ich nochmal genießen will.
Die Menschen, die uns begegnen, geben der Welt eine eigene einzigartige Farbe.