24 Dezember 2016 – 02 Januar 2017
Luis ist Ende zwanzig, aus der Dominikanischen Republik, lebt und arbeitet seit fast sechs Jahren in Buenos Aires und wohnt in Palermo, einem der schönsten Viertel hier mit den angesagstesten Restaurants, Bars und Clubs. Er hat keine Familie in der Stadt und so haben wir uns auf Couchsurfing gefunden um Weihnachten zusammen zu verbringen – seltsame Vorstellung, aber ich gehe der neuen Erfahrung neugierig entgegen. Am Nachmittag des Heiligabend holt Luis mich vom Flughafen ab. Die Hitze des berüchtigten Sommers in Buenos Aires hat ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben. Mit dem Bus fahren wir zu seiner Wohnung und mir fällt direkt sein starker amerikanischer Akzent auf, wenn er Englisch spricht.
Luis wohnt im sechsten Stock einer Einzimmerwohnung und sein einziges Möbelstück ist ein schöner Echtholzschreibtisch, scheint als wäre er hier nur auf der Durchreise. Wir werden heute abend zu einem Couchsurfing Weihnachtsessen gehen, jeder bringt was zu essen mit. Vor ein paar Tagen hatte ich Luis eine Einkaufsliste geschickt, worauf er noch ganz süß gefragt hat, welche Art von Tomaten er kaufen soll. Ich bereite Couscoussalat vor und gegen zehn treffen wir bei unserer Gastgeberin ein und verbringen einen Abend unter Menschen aus aller Welt, von denen ich hier nur die nenne, die später auch noch eine Rolle spielen: Aurora aus Costa Rica, Ramin aus dem Iran, der seine Tasche mit den Worten „no, it’s not a bomb“ auf den Tisch stellt und Matias aus San Martin de los Andes.

Für den ersten Weihnachtsfeiertag schlägt Aurora vor, sich in San Telmo zu verabreden. Mit am Start sind letztendlich noch Ramin und Luis und zu viert machen wir einen langen Spaziergang durch San Telmo, am Hafen entlang und durch die Innenstadt. Die Jungs zeigen uns die Stadt, wir haben anregende Gespräche über Argentinien, Südamerika und überhaupt die politische Situation in der Welt.
Zurück in San Telmo finden wir einen Tisch in einem Restaurant mit Tangoshow. Ronaldo stößt noch zu uns und mit lecker Eiscreme in einer der unzähligen Eisdielen geht ein entspannter harmonischer Tag mit Menschen zuende, die ich jetzt schon lieb gewonnen habe.

Den Montag starte ich mit Aurora im berühmten Friedhof im Recoleta Viertel und treffen uns danach mit einer Freundin von ihr um im Park Mate zu trinken: „der Mate-Tee ist ein Aufgussgetränk aus den klein geschnittenen trockenen Blättern des Mate-Strauchs“ (danke wikipedia) und vor allem in Argentinien, Uruguay und Südbrasilien verbreitet. Meine erste Assoziation war grüner Tee. Bisher hab ich nicht einen einzigen Argentinier getroffen, der gar keinen Mate trinkt und viele gehen ohne ihre Thermoskanne und Tee gar nicht aus dem Haus. Das Ganze hat etwas sehr Geselliges, denn man lässt den Becher herumgehen, teilt das Getränk und verbringt so Zeit zusammen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, dass die Menschen hier wesentlich nahbarer und geselliger sind. So berühren sie sich mehr, die Männer sind aufmerksamer, was vornehme Gesten gegenüber Frauen angeht und ich hab das Gefühl, dass man sich hier mehr hilft, egal ob man sich kennt oder nicht.
Sonnenuntergang auf der Dachterrasse, danach zeigt uns Luis Palermo – das Viertel ist wirklich wunderschön: überall sind die Bars und Restaurants geschmückt mit Lichterketten, die Inneneinrichtungen sind geschmackvoll und kreativ, es gibt schicke Hinterhöfe und überall gute Musik. Hier kann man von einer guten Bar in die nächste fallen. Wir schlendern durch die Straßen und setzen uns irgendwann zum Essen, erzählen uns Geschichten aus unserem Leben, vergangenen Beziehungen und ich bin mal wieder erstaunt, wieviel Rassismus vor allem Aurora schon begegnet ist. Ich genieße die Gesellschaft der beiden und bin dankbar hier sein zu dürfen.
Luis ist übrigens unglaublich aufmerksam, tut, was er kann, damit ich mich wohl fühle und verbringt jede freie Minute mit mir. Ich wünsche ihm, dass sein Vorhaben in den USA einen Job zu finden, schnell Wirklichkeit wird.
Auch die nächsten beiden Tage verbringe ich mit Aurora:
- Walking tour durch San Telmo und danach fahren wir auf Anraten von mehreren Seiten mit dem Taxi ins megatouristische Viertel La Boca, da es zu Fuß zu gefährlich ist. Einmal dort, sollte man sich nur in den belebten Straßen bewegen. Das ist aber auch der einzige Ort in Buenos Aires, den ich als gefährlich erlebe. Zurück im Zentrum laufen wir nach hause um noch mehr von der Stadt zu sehen.
- Ich hab nen Friseurtermin bei Luis Nachbar – das war bitter nötig – dann kurz frischmachen und auf in die Temple Bar, auf die ich durch die heraustönende Musik aufmerksam werde und die uns dann überrascht mit einem begrünten Hinterhof, Lichterketten und Blick in den Sternenhimmel. Wir schreiben Luis an, er soll doch dazukommen und zu dritt landen wir im Kika-Club. Ich hab mich noch nie von allen Seiten so angeschaut gefühlt! Alle fünf Minuten hängt irgendein Typ an uns dran. Ich lerne, dass hier auch gleich mal schnell geknutscht wird und viel zu bedeuten hat das nicht. Wir tanzen, lachen und genießen, uns so begehrt zu fühlen. Als wir wieder ins Freie treten, höre ich Vogelgezwitscher.
- Mit lange Schlafen ist nix heute, denn wir nehmen den Zug nach Tigre, ein beliebtes Tagesausflugsziel für Porteños, die Einwohner von Buenos Aires. In den zwei Stunden Fahrt lerne ich Aurora noch besser kennen und entdecke so einige Parallelen zwischen uns: andauernd auf Reisen, toppt mich aber um einiges und hat auch schon in Italien oder der Schweiz gelebt, Interesse am Fremden, hat bisher noch keinen Mann getroffen, der ihre Neugier auf mehr langfristig erhalten hätte. Sie ist unabhängig, intelligent, auf der Suche nach Neuem, nach Veränderung, Ende dreißig, keine Kinder, nicht mehr verheiratet, weiß auch nicht so recht, wo ihr Weg hinführt, hat ein spannendes Leben, viel zu erzählen, plant nicht gern. Ich finde sie zuckersüß und schließe sie spätestens heute ganz fest in mein Herz.
- Wir bummeln durch die Handwerksmärkte, essen auf Stufen am Fluss unser selbstgemachtes Lunch und als wir zurück in Buenos Aires sind, ist gerade genug Zeit zum Umziehen, da wir mit Luis, Ramin und Matias beim besten Libanesen der Stadt, Sarkis, verabredet sind, um Aurora zu verabschieden, da sie morgen abreist. Nach dem leckeren Essen führt uns Ramin in eine ‚Secret Bar‘: es gibt weder ein Schild noch sonst ein Zeichen, einfach nur eine schwarze Metalltür und eine Klingel, hab sowas schon mal in Montreal gesehen. Moderne Möbel treffen auf altes Mauerwerk, gedimmtes Licht, ewig hohe Decken, viel Raum. Wir bestellen Cocktails und meiner haut mich fast um nach dem Wein zum Essen. Sehr gut, aber jetzt zu stark. Zudem bin ich hundemüde. Ich gebe meinen Cocktail ab an die Jungs und kann die Augen kaum aufhalten. Es muss fast zwei gewesen sein als wir uns von Ramin und Matias verabschieden, denn hier trifft man sich frühestens um neun zum Essen. Mit Luis und Aurora schlendere ich heimwärts und Aurora wirkt so gar nicht müde – ich ahne, wohin das führt, denn Luis scheint auch nicht abgeneigt: zehn Minuten später stehen wir im Kika-Club. Es ist Auroras letzte Nacht hier, ich muss morgen nicht arbeiten, also rein ins Getümmel; meinen toten Punkt hab ich auch bald überwunden. Wesentlich jüngeres Puplikum, ich hab aber trotzdem kaum eine Minute für mich. Mit Sonnenaufgang verlassen Aurora und ich den Club mit neuen Telefonnummern und Auroras neuem Knutschrekord, Luis hat sich schon vorher mit einer Schweizerin verkrümelt. Von da an nennt Luis mich nur noch party animal.
Nach vier Stunden Schlaf muss ich raus, da heute meine Schwestern Anne und Ellen ankommen und für drei Wochen mit mir durch Argentinien reisen werden. Noch immer im Sparmodus hab ich ein sehr günstiges Zimmer über Airbnb gebucht, was sich später als Katastrophe herausstellen wird. Wir treffen uns am Busbahnhof und gehen quasi direkt zur ersten walking tour um den Nachmittag zu nutzen. Die ist aber ziemlich enttäuschend, da der Typ total nuschelt und man nur die Hälfte versteht, also seilen wir uns ab Richtung San Telmo und für die Mädels gibts das erste argentinische Eis.

Nach einer Nacht in einem stickigen Raum mit einer Tür, die man nicht wirklich schließen kann und welche in eine Art Patio führt, die auch von der Familie genutzt wird, Kakerlaken, dem Opa, der uns ganz witzig mit Hitlergruß begrüßt, ja ernsthaft und total lustig für uns, einem verstopften Klo, das Ellen als Pölpelmeisterin outet (die Schulung dazu gibts übrigens auf youtube und Anne und ich fragen uns unter Tränen, wie man auf die Idee kommt, sich sowas überhaupt anzuschauen – war aber sehr sehr hilfreich!) – wenn unser Onkel Günter das sehen könnte, der würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und versteht sowieso nicht, warum wir uns nicht mehr Luxus gönnen. „Mensch, ihr habt doch Geld, seid keine zwanzig mehr.“ Ja, wir ziehen um in ein Hotel, was übrigens zu dritt gar nicht viel teurer ist.
Nachdem wir uns in unserer neuen Basis eingerichtet haben, fahren ich mit den beiden nochmal zum Friedhof und wir machen die Walking tour, die richtig interessant ist und man erfährt einiges über die Geschichte Argentiniens.
Da ich schon die ganze Zeit von Palermo schwärme, habe ich uns für abends mit Luis verabredet: wir gehen in einen weltberühmten Burgerladen (nein, ich esse immernoch kein Fleisch, muss mich aber manchmal damit anfreunden, dass Käse im Rezept ist). Danach Folkloremusik und wir beenden den Abend in der Templebar, obwohl wir schon ziemich kaputt sind – also kein Club mehr heute, außerdem ist morgen Silvester, da wirds sicher spät.
Silvester: die Party heute abend ist über Couchsurfing organisiert – hier in Buenos Aires ist das übrigens schon seit bestimmt zehn Jahren eine große Community, auf die nicht nur Touristen zugreifen, im Gegenteil! Wir verbringen den Tag mit der Organisation der nächsten Tage, ruhen uns aus und kaufen eine dreizehn Kilo schwere Wassermelone, unser Beitrag für das Buffet heute abend.

Um neun treffen wir Ramin und laufen gemeinsam zum Gastgeber. Es ist die heißeste Nacht seit langem und ziemlich nass treten wir ein in eine bezaubernde Wohnung mit alten Dielenböden, hohen Decken, offener Küche und Terrasse. Mehr und mehr Gäste aus aller Welt trudeln ein, auch Luis, und wir sind begeistert vom Buffet, das so bunt und megalecker ist! Wir trinken, essen, schauen Feuerwerk, quatschen und tanzen bis drei Uhr morgens.
Dann beginnt eine kleine Odyssee über Palermo, wo die Straßen voll von jungen feiernden betrunkenen Menschen sind. Erst warten wir ewig auf den Bus Richtung Palermo, dort steigen wir mit Luis aus, treffen uns mit Matias und einer Freundin, Luis holt mehr Bier von zuhause, das er letztendlich alleine trinkt, weil wir schon genug haben und nach einer endlosen Suche nach einem freien Taxi steigt Matias mit uns in einen Bus, der uns in die Nähe unseres Hotels bringt und wir nur noch acht Blocks zu laufen haben. Matias erweist sich als echter Gentleman, ist selbst todmüde und fährt ein ganzes Stück mit uns, weg von seiner Wohnung. Dass meine Schwestern von ihm begeistert sind, war mir schon vorher klar und Ellen fühlt sich wieder einmal bestätigt in der Theorie, dass alle guten Männer schon vergeben sind. Ich füge hinzu: oder schon wieder geschieden. 7:30 Sonntag morgen sind wir im Hotel. Ihr kennt das Gefühl, nach so einer Nacht frisch geduscht ins Bett zu steigen? Traumhaft! Feliz año nuevo!