Prince Edward Island and Nova Scotia

02 – 09 August 2017

Eine Woche Urlaub steht an: ich fliege auf die Insel zu Kirsten und Shawn’s Hochzeit. Danach hab ich vier Tage in und um Halifax – dachte mir, wenn ich schon da bin, kann ich auch gleich die Gegend erkunden. Für die erste Nacht auf der Insel ist ein Hostel in Charlottetown reserviert, morgen holt mich Kirsten ab und nach weiteren zwei Nächten will ich irgendwie nach Halifax. Gebucht habe ich nichts, wird sich schon etwas ergeben; über Couchsurfing tut sich allerdings fast gar nichts; die Canadier scheinen viel reservierter und unflexibel, die meisten sind überhaupt nicht aktiv auf der Platform, im Süden war das einfacher.

Im Flieger von Halifax nach Charlottetown ist gerade mal Platz für achtzehn Personen, freier Blick zum Cockpit – definitiv das kleinste Flugzeug, in dem ich je saß. Angekommen frage ich den erstbesten Menschen, der sich ein Taxi herwinkt, ob wir es uns teilen können; scheint ihm ziemlich egal zu sein, also steige ich mit ein. Gesprächig ist er nicht gerade, daher konzentriere ich mich auf den Taxifahrer: gemütlicher Typ mit Vollbart, der die Insel wahrscheinlich kennt wie seine Westentasche, da er hier geboren und aufgewachsen ist. Als mein Mitfahrer zuerst abgesetzt wird, will ich fragen, was ich schuldig bin, doch er winkt ab und als wir alleine sind, meint er: dir mach ich einen speziellen Preis. Der Herr hier ist Businessman, bekommt es wahrscheinlich eh bezahlt und schläft im Hotel. So bekomme ich meine Fahrt zum halben Preis.

freier Blick zum Cockpit

Das Hostel macht einen sehr guten Eindruck, etwas befremdlich finde ich nur die Privatfotos des Besitzers und seiner Frau an den Wänden. Ich lege ab, bekomme einen kurzen Rundgang, Dusche, dann schlendere ich durch den Ort bis ans Ufer. Alles sehr ruhig und idyllisch hier, man fühlt sofort, dass die Uhren etwas langsamer ticken. Den Abend verbringe ich im Hostel, unterhalte mich hier und da mit anderen Gästen, die überwiegend aus Canada und Deutschland sind.

downtown Charlottetown
Hostel, waterfront

Am Donnerstag mittag holt mich Kirsten mit Freundin und Mutter ab und für letzte Erledigungen geht es über die Insel, von hier nach da. An der Hochzeitslocation Centre Goeland treffen wir auf Bräutigam Shawn und ein paar Freunde und Familie. Nach dem Beziehen unserer Zimmer erkunde ich das Gelände: wir sind wirklich direkt am Wasser mitten in der Natur – das wird eine Feier ohne den ganzen überflüssigen Schnick Schnack. Am Abend übernehme ich die Aufgabe, das Gastgeschenk für die Damen fertigzustellen: Lippenbalsam! Kann man schon mal erst am Abend vor der Hochzeit machen. Bei einem Glas Wein schmelze ich Bienenwachs, Kokosöl und Sheabutter und fülle die Minitigel – sieht richtig professionell aus.

wedding location

Freitag, 04. August: wedding day! Kein Wölkchen am Himmel, könnte kaum perfekter sein. Die Zeremonie beginnt am Nachmittag, so bleibt vorher sogar Zeit für etwas Sport und einen Sprung ins Wasser. Um meine Weiterreise hab ich mich immer noch nicht gekümmert, spekuliere aber darauf, dass irgendjemand schon in dieselbe Richtung fährt. Hostels sind auch schon fast ausgebucht, aber ich habe irgendwie die Ruhe weg. Nach und nach trudeln Familie und Freunde ein und dann ist es auch schon soweit und alle schlendern Richtung Wiese am Meer. Ich schnappe mir noch schnell ein Bier, das ich leere, bevor ich meinen Platz auf einer der Holzbänke mit Blick aufs Wasser einnehme.

gleich gehts los – Wetter: überragend!

Es wird nicht lange um den heißen Brei geredet und so darf Shawn seine Braut nach nicht mal dreißig Minuten küssen.

Während der Fotograf unendlich viele Fotos schießt, vertreibt sich die Gesellschaft die Zeit mit Austern essen und dem ein oder anderen Getränk.

Nach drei Gängen Essen, ein paar kurzen Reden und dem Anschneiden des Kuchens tritt die Band auf, was die Tänzer aus ihren Stühlen holt. Ich bin nicht in der Stimmung und habe neben mir Kirstens Mum, der es genauso geht. Gegen elf kommt Greg, ein Freund der Familie und meint, wir müssen uns den Mond anschauen. Also laufen wir an den Strand und der Sternenhimmel bietet im Zusammenspiel mit Mondschein und Wasser einen Anblick wie gemalt. Während wir hier so stehen und uns unterhalten, stellt sich heraus, dass Greg morgen ganz in die Nähe von Halifax muss und bietet an, mich in den Nachbarort Dartmouth mitzunehmen. Ja, ihr lest richtig: elf Uhr abends nach ein paar Gläsern Wein finde ich meine Mitfahrgelegenheit.

Samstag morgen nach schnellem Frühstück verabschiede ich mich von den frisch Vermählten. Nach einer unterhaltsamen Fahrt setzt Greg mich gegen zwei am Nachmittag in Dartmouth ab. Ich bin müde, habe Hunger und bin unschlüssig, was ich mit dem Rest des Tages machen soll. Mit der Fähre schon rüber nach Halifax oder hier erst mal eine schöne Terrasse in der Sonne suchen? Hostels sind eh ausgebucht, vielleicht lassen die mich eine Nacht auf dem Sofa schlafen. So laufe ich ein paar Straßen mit meinem kleinen geliehenen Rucksack auf und ab und stehe am Ende vor der Bar Battery Park. Sieht hip und einladend aus, im Hinterhof eine Terrasse, das ist es.

Ich suche mir einen Platz in der Sonne an einem der langen Picknicktische, bestelle Cider und veganen Burger und logge mich ins wifi ein mit der Hoffnung, doch noch jemanden auf Couchsurfing zu finden.

Battery Park in Dartmouth

Ich plaudere kurz mit einem Typ, der hier mit Freunden verabredet ist. Als diese eintreffen, nutze ich den Moment um weiter im Netz zu suchen, lange sitze ich jedoch nicht allein: Kyle und Don stehen rechts neben mir und fragen, ob sie sich setzen können. Kyle trägt Kappe, wirkt lässig, jünger als ich, Don definitiv etwas älter, viele Tattoos, seine Gestik wirkt feminin, ein Paar sind die beiden aber glaube ich nicht. Sie sind aus Toronto und machen hier gerade Urlaub – und schon bin ich wieder am quatschen, so wird das nichts. Ein paar Minuten später klingt sich der Typ schräg gegenüber auf meiner linken Seite ein, der wohl auch in Toronto lebt und den ich erst jetzt bemerke. Brian ist mit einer Freundin hier. Robyn. Sie sitzt auf meiner Seite und ich bin etwas perplex, dass ich die beiden nicht kommen gesehen habe, so vertieft war ich in mein Telefon in meiner obdachlosen Situation. Wir rutschen zusammen und man könnte meinen, wir hätten uns hier alle verabredet. Brian ist Filmregisseur und gerade mit seinem Team in der Stadt, sein Skaterstyle lässt ihn sehr jugendlich wirken, beide sind total aufgeschlossen und entspannt. Liegt vielleicht auch daran, dass sie vorher schon in einer anderen Bar getrunken haben, wie ich später erfahre. Ich fühle mich sofort wohl mit den beiden. Robyn geht mit ihrem lässig hochgesteckten lockigen Haar, ihrem sportlich schicken Outfit und ihrer offenherzigen Art locker als Ende dreißig durch. Als ich erwähne, dass ich mich eigentlich um eine Bleibe für die Nacht kümmern muss, schaut sie mich an und meint: „You can sleep at my place!“ Ich tausche einen Blick mit ihr aus – meint sie das ernst? Sie entgegnet, dass sie in einer Familie mit offenen Türen aufgewachsen ist und mich gerne mitnimmt. Das macht sie gleich noch sympathischer, denn diese Offenheit kenne ich von meiner Familie. Wir bestellen das zweite Bier und ich muss innerlich lächeln, da mein tiefes Vertrauen in das Leben mit seiner Unvorhersehbarkeit mir heute Robyn schenkt und diese Begegnung eine der schönsten seit langem sein wird.

Don und Kyle müssen los, aber wir verabreden uns für den Abend. Dave, ein Freund von Robyn, der hier arbeitet, setzt sich noch zu uns. Ich erfahre, dass Brian und Robyn sich vor langer Zeit bei der Arbeit kennenlernten und seitdem enge Freunde sind, sie ist Production Designerin, arbeitet seit kurzem Teilzeit in einer Organisation für geistige Gesundheit und verbringt ihre restliche Zeit mit kreativer Arbeit. Dass sie auf Frauen steht, lässt sie mich auch direkt wissen.

links: Brian und Freund von Robyn, Dave. rechts: Robyn und ich. Typ hinter mir kennen wir nicht: photobomb 🙂

Als ich ihre Wohnung betrete, die nur ein paar Gehminuten entfernt liegt, fühle ich mich direkt pudelwohl: wir richten auf die gleiche Weise ein und wie bei mir gibt es hier viele kleine Dinge zu entdecken. Die Frau hat Geschmack!

Nach kurzem Ausruhen und Dusche machen wir uns gleich wieder auf den Weg. Wir genehmigen uns einem Drink zu zweit an einer Hotelbar und stoßen danach in einer Openair Bar am Hafen zu Brian und seiner jungen Assistentin Madison, die er mitgebracht hat. Die Vertrautheit der beiden irritiert mich, da ich am Nachmittag noch Fotos von Partnerin und Kindern gezeigt bekam – aber nicht meine Angelegenheit. Bevor wir weiterziehen in den Seahorse Club kommen wir noch in den Genuss eines Feuerwerks und ich bin ganz angetan von den herzförmigen Lichtern am Himmel.
Im Club treffen wir Don und Kyle wieder. Brian und Robyn stellen sicher, dass der Alkohol fließt, Brian macht sich an Madison ran, Kyle zeigt auch Interesse und checkt bei mir ab, was zwischen den beiden ist. Durch die Konkurrenz verliert Brian bei dem jungen Hüpfer kurz die Oberhand und kommt mir etwas näher. Robyn macht mir den ganzen Abend charmante Komplimente. Alles entspannt und wir tanzen durch den Abend. Don ist auf einmal irgendwann verschwunden, schreibt mir lange Nachrichten wie ein eifersüchtiger Freund und scheint nicht klarzukommen damit, wie wir uns amüsieren – Dramaqueen! Geht gar nicht!

Ziemlich müde und gut betrunken kommen wir nach Hause und bevor wir ins Bett fallen, mache ich mich noch über Toastbrot und Oliven her – viel mehr gibt Robyn’s Kühlschrank für mich nicht her.

Den Sonntag gehen wir gemütlich an, quatschen und lachen den ganzen Tag, kein Thema ist tabu und ich hab das Gefühl über alles mit ihr reden zu können, relativ schnell sind wir uns einig, dass ich die kompletten vier Tage bei und mit ihr verbringe.

Am Montag besuchen wir Brian bei der Arbeit und werden Teil der TV Show, die sich schnell als ziemlich bescheuert herausstellt, da das Gebäck in der Bäckerei übertrieben gelobt werden soll und eigentlich nur nach viel Zucker schmeckt. Aber wir haben dennoch Spass, denn Robyn’s Mum, Bruder und Nichte sind auch dabei, die Kreativität zieht sich offensichtlich durch die ganze Familie; als professioneller Entertainer und ehemalige Schauspielerin sind Bruder und Mutter die Highlights des Drehtages.

hinter der Kamera: the Baker Sisters

Mittags setzen wir Robyn’s Familie zuhause ab, das Sommerwetter ruft nach Strand, also machen wir uns auf zur Terence Bay an eine kleine Bucht, erfrischen uns dort im kühlen Nass, eine Freundin, die in der Nähe wohnt, schaut kurz vorbei. Und weil es so nah ist, bringt Robyn mich gegen Abend noch zu einer der berühmtesten Ausflugsziele hier in Nova Scotia: Peggy’s Cove.

Unser Gesprächsstoff geht uns nicht aus, die Parallelen zwischen uns sind mir fast schon unheimlich, fühlt sich ein bisschen an wie eine zweite Version von mir in einer anderen Welt. Ihre positive und offenherzige Art emfinde ich als besonders erfrischend, sie ist so herrlich unkompliziert.

Ihre Geschichte fasziniert mich:

  • im Alter von nur einem Jahr erleidet sie durch einen Unfall mit heißem Wasser schwerste Verbrennungen an einem Bein, geht von da an durch viele Ops und Schmerzen, die Narben heute bringen sie in manchen Situationen nach wie vor in Unsicherheiten
  • sie besucht das Internat, in dem ihr Vater als Lehrer arbeitet, widmet viel Freizeit dem Sport und gehört meist zu den Besten in jeglicher Sportart
  • sie ergreift einen kreativen Beruf und arbeitet im Filmbusiness, gewinnt im Jahr 2003 den Leo Award für Production Design in Vancouver,BC. Ihr Auge fürs Detail zeigt sich in jeder Ecke ihrer Wohnung.
  • Aus meiner Familie bin ich mit geistigen Krankheiten vertraut, daher berührt mich ihre Erkrankung vor vielen Jahren besonders. Wenn man sie heute erlebt, ahnt man nicht das Geringste davon. Ihr liegt viel daran, die damit zusammenhängenden Stigmata zu bekämpfen
  • ihre Kreativität inspiriert mich, ich lerne viel Neues kennen, in manchen Momenten fühlt es sich an als lebt sie das aus, was ich in mir habe und weckt meine Sehnsucht nach mehr
  • wie ich ging sie durch viele ungesunde Beziehungen, ihre Angst nicht geliebt zu werden kenne ich – die profunde Angst von uns allen.
  • sie hat gute Menschen um sich und mag es, mit Fremden zu sprechen, gibt mir das Gefühl, dass ich vom Süden vermisse: dass wir alle verbunden sind, dieselben Gefühle teilen, sie sieht das Gute im Menschen. Ich habe genug von all dem oberflächlichen Denken und Handeln, schnellen Urteilen.
  • sie zeigt mir eine bis dahin unbekannte Welt – ich lasse mich treiben

zwei meiner Lieblingsbilder von Robyn:

An meinem letzten Tag will ich nach Lunenburg, doch mit einem Blick aus dem Fenster am frühen Morgen ist klar, dass es heute nicht aufhören wird zu regnen. Daher nehme ich mit Robyn die Fähre nach Halifax, setze mich für den Vormittag in die Bibliothek, erledige ein paar Dinge in der Stadt und besorge Zutaten fürs Abendessen, wobei ich versuche möglichst im Trockenen zu bleiben. Robyn holt mich im Mietwagen ab und ich begleite sie zu einem Treffen mit einer Arbeitskollegin, wo wir unser erstes Bier bestellen.

Ich koche unser letztes gemeinsames Essen, irgendwann fallen wir müde in die Kissen und ich schlafe zum ersten Mal seit Ewigkeiten tief und fest. Der Wecker klingelt noch vor sechs Uhr, wir kommen nicht aus dem Bett – eine Stunde später sind wir innerhalb von fünf Minuten frisch und auf dem Weg zum Flughafen.

Wir umarmen uns mehrmals fest, mein Herz wird schwer, Robyn hat mich tief berührt und mir viel Liebe und Vertrauen geschenkt. Ich weine auf dem Weg zurück nach Montreal.

I am learning to say Yes, to be daring and spontaneous, to hurl myself into people and places and moments without hesitation or second-guessing myself – to challenge my anxieties, to confront my fears, to trust unwaveringly in chance and fate to lead me to where I am supposed to be. – Beau Taplin. The Yes Man

Ich lerne ja zu sagen, mutig und spontan zu sein, mich in Menschen, Orte und Momente zu werfen ohne zu zögern oder mich zu hinterfragen – mich meinen Ängsten zu stellen, unerschütterlich in Chance und Schicksal zu vertrauen um mich dahin zu führen wo ich sein soll.

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