Winter Teil 2 und Beginn von Corona

19.Januar – April 2020

Was verliere ich, was gewinne ich? Was für ein Mensch will ich sein? Welche Konsequenzen befürchte ich? Kopf und Bauch führen eine riesen Schlacht, keiner gibt nach: mein Kopf sammelt Argumente und Fakten, wägt ab. Mein Bauch spürt – ich versuche, bewusst in meinen Körper zu fühlen, entstehende Empfindungen bei bestimmten Gedanken zu sortieren. Mache ich mir selbst was vor? Weiß ich, was ich will? Traue ich mich nur nicht? Der Wunsch anzukommen, sich am richtigen Ort fühlen, wird größer.

Voller Genuss ist in der Schwebe nicht möglich. Entscheide aus Liebe statt Angst! Es gibt nicht nur ‚entweder oder‘ sondern mehrere Alternativen.

Mitten im Schnee fühlt sich Sundae am besten.

Nach ewigem Hin und Her im Kopf treffe ich schließlich eine erste Entscheidung: ich will bei Sherry bleiben bis nach ihrer OP, will für sie da sein, wenn sie Hilfe braucht. Und ich weiß, dass sie vorher sehr nervös sein wird. Ob ich dann letztendlich im Herbst schon wieder in Deutschland beginne, ist erstmal dahingestellt. Es ist, als ob ich auf ein Zeichen warte, das mir bei meiner eigentlichen Entscheidung hilft.

Februar. Hör auf dein Gefühl, wenn du keinen Druck verspürst und still bist. Was sind deine Sehnsüchte, was vermisst dein Herz, was erfüllt dich? Wer bist du, was gefällt dir, wie möchtest du leben? Manchmal fühle ich mich mehr als Anhängsel, sie führt, ich ziehe mit, lebe mich selbst nicht aus, ein Teil von mir wird vernachlässigt.

Ich tausche meinen deutschen Führerschein gegen einen von hier, denn beim Ausweisen vereinfacht das vieles und ich werde nun doch noch eine Weile hier sein. In Deutschland läuft sowas immer mit viel Bürokratie ab, hier dagegen gebe ich gefühlt meinen über den Tresen, kurze Zeit später liegt mein kanadischer Führerschein im Briefkasten. Für mich ist dies ein Aha-Moment: die ganze Zeit habe ich selbst meinen Aufenthalt hier nicht so betrachtet, wie er tatsächlich ist – ich lebe hier. Für mich war es immer nur ein Aufschieben meiner Rückkehr. Doch tatsächlich lebe ich hier seit über zwei Jahren.

Point Pleasant Park

Endlich bekommt Sherry ein finales Ergebnis zu all ihren Tests zur Nierenspende. Leider ist die Nachricht jedoch für alle Beteiligten ernüchternd und enttäuschend: Sherry kann keine ihrer beiden Nieren an ihre Cousine Brenda spenden. Die eine ist zu verwoben mit ihren Organen, die andere hat nur eine Arterie, was zum Spenden ungeeignet ist. Warum dieser Test erst ganz am Ende liegt, haben wir uns lange gefragt.

Spaziergang mit Brenda und Simone

März. Ich bin wesentlich ruhiger im Kopf. In einem längeren Gespräch ging es unter anderem darum, dass das hier einfach nicht meinem Lebensstil entspricht und die Winter hier für mich schwierig sind. Ich will diese Gefühlsschwankungen nicht nochmal erleben und nachdem sie ihre Niere nun nicht spenden kann, stellt sich für mich wieder die Frage, wie geht es weiter und soll ich doch länger hier bleiben. Die Reise quer durch Kanada wollen wir nach wie vor machen, Start Mitte Juni. Bis dahin so viel Geld sparen wie möglich und danach hier noch gemeinsam den Rest des Sommers genießen. Im Oktober würde ich dann nach Deutschland fliegen. Aus zeitlicher Ferne ist der Gedanke erträglich, bei zuviel Visualisierung wird es unangenehm. Ich muss bis dahin einen Weg finden, dass mich der Abschied nicht überwältigt, die Perspektive wechseln. Selbst bei unserem Gespräch fiel es mir schwer, die Tränen zurückzuhalten. Der Plan ist nicht schlecht, meine Gefühle zu ihr dagegen vertiefen sich.

Sundae ist weiterhin mein Laufpartner

Zwei meiner Brüder wollen mich im Sommer besuchen kommen. Sherry findet langsam wieder zu alter Form zurück, die ganzen Tests und der mentale Stress haben sie ganz schön mitgenommen. Wir lachen nach wie vor sehr viel zusammen, kuscheln viel, sind liebevoll miteinander, wachsen zusammen. Und doch verhalten wir uns auf gewisse Art vorsichtig und zurückhaltend, die Zukunft ungewiss.

Mitte März. Ich fühle mich wie in einem Science-Fiction-Film. Corona/COVID 19 hat die Welt fest im Griff. Nach und nach schließen alle Länder ihre Grenzen, gehen in den sogenannten Lockdown. Seit gestern sind hier in Nova Scotia alle Parks und Strände zu, verboten zu betreten. Man darf höchstens zu fünft unterwegs sein. Beschränkungen in den Supermärkten, Plexiglas an den Kassen, Leute sind auf Abstand, alle Geschäfte zu. Wer weiß, wer so wie lange überleben kann. Viele Falschmeldungen kursieren. Panik, Lagerkoller, der unbegrenzte Nachrichtenfluss Tag für Tag bereitet mir Kopfschmerzen, von denen ich bald nicht mehr weiß, wann sie eigentlich anfingen. Bisher scheint es nicht so, dass die Welt in naher Zukunft in den Normalzustand zurückkehrt. Nahezu alle Flüge sind gestrichen, man redet davon, dass die Welt nicht mehr die gleiche sein wird. Ich kämpfe mit der Vorstellung, dass viele Menschen auch nach all diesem Wahnsinn verschreckt sein werden, übervorsichtig, auf Distanz, Berührungen seltener.

Unsere ersten Masken

Drei Wochen Lockdown. Wenn ich nicht mit Sherry in der Küche bin, gestaltet sich ein normaler Tag folgendermaßen: Kaffee machen, zurück ins Bett, Neuigkeiten im Netz lesen, aufstehen, frühstücken, wieder ans Handy, mit Freunden und Familie kommunizieren. Mittags mit Sundae spazieren, zurück im Haus. Lesen, chatten, joggen gehen, Abendessen kochen, Sundae nochmal ausführen. Die Abendgestaltung beläuft sich auf fernsehen oder lesen. Meine Laune schwankt, das Wetter ist nicht hilfreich, Temperaturen hier schwanken zwischen 0 und 15°, bleiben meist aber noch einstellig. Wenn ich dann noch die sommerlichen Tage in Deutschland sehe, sinkt die Stimmung. Zu alldem bewege ich mich nicht genug, bin gelangweilt wie nie zuvor. Bis Ende August scheinen alle öffentlichen Veranstaltungen abgesagt, unsere Tour quer durch Kanada wird auch immer unwahrscheinlicher. Fest steht, dieser eintönige Alltag tut mir nicht gut und ich blicke etwas neidisch nach Deutschland. da hätte ich auf jeden Fall wesentlich mehr Gelegenheiten, mich zu beschäftigen und Familie und Freunde zu treffen. Bis nach Sherry’s Geburtstag Mitte Mai will ich definitiv noch bleiben und dann ist wahrscheinlich ziemlich klar, ob unser Trip dieses Jahr realisierbar ist oder nicht. Vielleicht dann zum Halbjahr wieder in Deutschland beginnen? Aber wer weiß, wann überhaupt wieder regelmäßig Flüge gehen. Die Welt ist nicht mehr planbar.

Face mask!

Winter in Halifax, Kopfzerbrechen, Weihnachten und Neujahr

25.Oktober 2019 – 04.Januar 2020

In meiner Abwesenheit hat Sherry weitere Veränderungen im Haus vorgenommen und wir gehen nun gemeinsam viele Projekte an. Seit feststeht, dass sie das Haus vorerst behalten wird, ist die Motivation für Umgestaltung größer. Sherry ist diesbezüglich wie immer sehr einfühlsam, sieht, was ich brauche und ist kompromissbereit. So hat sie mir ein Zimmer im Haus zur Verfügung gestellt, welches ich ganz nach meinen Vorstellungen einrichten und dekorieren darf. Jetzt ist endlich Raum für meine Übungen, Meditation, Entspannung und Rückzug.

Vorher
Nachher

Für den inneren Ausgleich und die Fitness laufe ich zudem regelmäßig, bei schlechtem Wetter ist Sherry’s neues Laufband goldwert. Sundae beschließt eines Tages, mich zu begleiten – das Winterwetter entspricht ganz ihrer Natur – und so wird sie zu meinem neuen Laufpartner.

Shubie Park am See und Point Pleasant Park direkt am Meer

Sherry und ich kommunizieren mehr. Denn wir waren wieder einmal an einem Punkt, an dem sie mir vor Augen hält, wie wenig sie aus mir heraus bekommt, dass ich mehr in Anwesenheit von Freunden rede als mit ihr. „Sollte es nicht so sein, dass dein Partner dein engster Vertrauter ist, dem du alles sagen kannst?“ Sie ist den Tränen nahe und auch ein Stück weit frustriert. In meinen Gesprächen mit ihr komme ich oft einfach nicht über meine Hemmschwelle, frage mich, warum ich die drei Worte nicht aussprechen kann und mir wird klar, ich habe das noch nie zu jemandem gesagt. Dabei möchte ich sie wissen lassen, was ich für sie empfinde. Ich spiele die Situation x-mal im Kopf durch, doch wenn ich sie dann vor mir habe, bin ich wie versteinert. Sie lässt mich wissen, dass sie nach wie vor in Deckung ist und vorsichtig mit ihren Gefühlen, da sie nicht wie andere zuvor davon ausgehen will, dass ich sie liebe. Denn ich hatte in der Vergangenheit schon so meine Sinneswandel bzw. nicht klar kommuniziert, was dem anderen das Herz gebrochen hat. Angestoßen durch ihre erklärte Zurückhaltung fasse ich mir eines Morgens, als wir wie immer noch eine Weile im Bett liegen, dann doch ein Herz und sage ihr die drei Worte. Ihre Reaktion: „This is quite the shocker!“ Wir brechen beide in Lachen aus.

Nachdem unsere Beziehung nun also eine neue Ebene erreicht hat und ich dem Winter hier mit all seinen Facetten mehr Positives abgewinnen kann, spiele ich mit dem Gedanken, meine Beurlaubung doch zu verlängern. Denn wenn ich zurück gehe, stehen die Chancen für unsere Beziehung ziemlich schlecht. Sie hat es so formuliert: zunächst werden wir noch viel in Kontakt sein, doch das ebbt ab. Sie in mein Leben dort zu integrieren, ist wesentlich schwieriger, meine Lebensart dort ganz anders. Wir würden für immer verbunden sein, aber jeder wird dann sein eigenes Leben weiterführen und sie wird irgendwann wieder mit jemanden zusammen sein, muss mit ihrem Leben weitermachen. “Whatever you decide you’ll have a great life.” Doch der Gedanke, mit der Rückkehr gleichzeitig die Beziehung zu beenden, schmerzt. Ich lerne mit ihr mehr über mich, andererseits ist es verlockend, in vertraute Gewässer zurückzukehren. Ich schiebe die bevorstehende Entscheidung vor mir her.

Winter in Halifax

Mit Beverly und ihren Schwestern besuchen wir Sherry’s Bruder Travis und seine Frau Diana. Es amüsiert mich, die drei Schwestern gemeinsam zu erleben, aber der Tag stimmt mich nachdenklich: Beverly’s Schwester Marilyn scheint ein sehr einsames Leben zu führen, mit schlechtem Verhältnis zu ihrer Tochter, quasi keine Freunde. Als ich die Schwestern so reden höre, stelle ich mir mein eigenes Leben in vielen Jahren vor und sehe mich inmitten von vielen Freunden. Mir kommt die Frau vom Markt wieder in den Sinn, die damals zu mir sagte, ich solle mir das gut überlegen, ob ich hier bleibe, denn die Freundschaften werden nicht die gleichen sein. Ich denke an Mamas Leben und wie gut sie sozial vernetzt ist, auch gegeben durch ihr Leben in einem Ort auf dem Dorf.

Aunt Del, Mum Beverly und Aunt Marilyn

Anfang Dezember erreicht mich eine traurige Nachricht aus Frankreich: Helga, die Tante von sehr guten Freunden ist gestorben. Das haut mich ziemlich um. Viele Sommer habe ich an der Atlantikküste verbracht und über die Jahre eine besondere Beziehung zu Helga aufgebaut. Ich wusste, dass sie in den letzten zwei Jahren stark abgebaut hat und dement war, aber die Nachricht ist dennoch schockierend. Helga ist einer der unkonventionellsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Vor zehn Jahren war ich das erste Mal in Cap Ferret in Frankreich und bei Helga, habe sie über die Jahre kennen und lieben gelernt, ihre Eigenarten genossen, ihre Geschichten gerne gehört. Wir hatten eine Phase, in der wir jede Woche telefonierten. Helga war eine ganz besondere Frau, bildhübsch, hoch attraktiv, sensibel, ein Auge für die kleinen Dinge, Liebe zur Poesie, offen, verrückt, meistens von Leichtigkeit getragen mit tiefem Kern. Viele Erinnerungen gehen mir durch den Kopf: gemeinsames Kaffee trinken am Morgen, ihr Einrichtungsstil, Hang zur Farbe weiß und bunt, unzählige Cremes im Bad, ihr graziler Körper, der eine robuste tiefe Stimme hervorbrachte, ihr lautes Lachen, ihre Ehrlichkeit, ich habe viel von mir in ihr gesehen. Selten habe ich mich in einem Ort wohler gefühlt. Nun ist sie nicht mehr da. Heute bin ich sehr traurig.

Erinnerungen mit Helga

Die Weihnachtszeit ist gefüllt mit Einladungen bei Freunden, Schrottwichtel-Party, Tanzabend, Theater und mehr.

Es weihnachtet sehr…

Noch eine Woche bis Weihnachten und nichts ist entschieden. Mein Herz sollte klar sprechen, aber ich bin völlig hin und hergerissen oder sehe einfach nicht klar. Mein Kopf ist überlastet. Wo sehe ich mich in fünf Jahren? Keine Ahnung. Gefühlsmäßig scheint es einfacher, die Beurlaubung um ein Jahr zu verlängern, uns mehr Zeit geben. Nur was mache ich dann in einem Jahr? Wird es dann nicht nur noch schwieriger, hier aufzubrechen? Ich kann meine Situation nicht ausstehen. Meine Schwester sagt, wenn ich mit Sherry dieses Wir-Gefühl habe, sollte das auf jeden Fall Vorrang haben. Man weiß zudem nie, wie es kommt, muss nach dem jetzigen Gefühl entscheiden. Ich sehe keine befriedigende Lösung. Wenn ich bleibe, leidet mein Herz jeden Tag ein kleines bisschen. Wenn ich gehe, ist der Schmerz überwältigend: sie von heute auf morgen nicht mehr in meinem Leben zu haben, ein Stück von mir zurück zu lassen, zu gehen, obwohl es wunderbar zwischen uns läuft. Komme ich zu Hause auf Dauer wieder zurecht? Ist das Leben hier das, was ich will? Lebt wirklich jeder sein eigenes Leben vorrangig in einer Partnerschaft? Ich sehe da nach wie vor mit Freunden und Familie mehr Miteinander. Wie fühlt sich der Gedanke von alleine sein an? Was ist mein Ziel? Was will ich erreichen? Das Gedankenwirrwarr macht mich wahnsinnig. Willst du wieder alleine leben? Mehr Zeit mit Freunden hier und da und dort verbringen? Kannst du dir wirklich vorstellen, in deine alte Wohnung zu ziehen, wieder fest als Lehrer zu arbeiten, gebunden ans Schuljahr, dein Ding machen, deine Urlaube, und so weiter? Wenn du hierbleiben solltest, wie soll dein Leben aussehen? Was ist dir wirklich wichtig? Gibt es eine Variante, mit der du zufrieden leben kannst ohne zu denken, woanders wäre es schöner? Ein Weg, der dich zufrieden zurückblicken lässt. Was genau bringt dich zum weinen, was genau macht dich traurig? Bist du dir wirklich sicher, dass du zurück willst oder hat sich die Welt zu sehr gewandelt und du hältst an etwas fest, was so gar nicht mehr existiert? Empfindest du dein Leben als aufregend? Welcher Lebensart möchtest du nachgehen?

Wie befreie ich mich aus dieser Gedankenspirale?? Wenn der Druck größer wird, muss eine Entscheidung her und das wird spätestens Ende Januar sein.

Vorsätze fürs neue Jahr? Ich will einfach nur mehr Klarheit, einen Weg vor Augen haben, wieder mit vollem Herzen und ruhigem Geist leben… Happy New Year 2020!

Silvesterabend bei Freunden

Sommer in Halifax

08 Juni – 30 Juli 2019

Die Nacht vor meinem Heimflug früh am Morgen verbringe ich am Flughafen in Cancún. Der Versuch, in einer Ecke auf dem kalten Fliesenboden zu schlafen, scheitert kläglich. Putzpersonal ist aktiv, der Boden hart und kalt. Als ich mich auf der Toilette frischmache, plaudere ich mit der mexikanischen Putzfrau, die nach ein paar Minuten ganz verstohlen ein Bier aus einem ihrer Putzeimer zieht und mir entgegenstreckt: „Wenn jemand fragt, das hast du nicht von mir.“ Sie ist so goldig, dass ich das Bier nicht ausschlagen kann.

Ankunft in Halifax: Als ich mit meinem Rucksack durch die Schiebetür trete und Sherry erblickte, entspannt sich etwas in mir. Der Überfall in San José ging mir tagelang nach. Wir lachen uns an, fallen uns in die Arme und sie fährt uns nach Hause. Nach einem freien Sonntag stehen wir montags wieder gemeinsam in der Küche und am darauffolgenden Samstag bin ich schon wieder zurück auf dem Markt. Alle freuen sich mich wiederzusehen, Mein Umsatz ist wie gewohnt, ich biete jetzt auch Thai Curry an.

Der Sommer bahnt sich an und die Stadt wird lebendig. Ich bin im richtigen Moment wieder da.

Die Bar Kismet, wo wir vor einem Jahr zum ersten Mal gemeinsam waren, ist eines unserer ersten Ziele.

Sherry genießt ein paar Austern

John (ursprünglich aus England) und ich hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander, kaum bin ich zurück, haben wir ein Date für einen Abend zu viert.

John hat wenige Tage nach meiner Rückkehr Geburtstag. Wir treffen ihn und Cyril auf der Terrasse der Bar Good Robot und ziehen dann weiter in das Pub Chain Yard, wo zwei Freundinnen von den Jungs dazustoßen.

Schon in der zweiten Woche kehrt mein Heimweh zurück – das ging schneller als gedacht. Sherry schlägt in ihrer Fürsorge vor, Ende August gemeinsam nach Deutschland zu fliegen. Das bedeutet noch zwei Monate warten, was mir in meiner Ungeduld lange vorkommt.

Sherry’s Vater will sich spontan mit uns auf einen Kaffee treffen. Sherry findet es seltsam, dass er ausdrücklich uns beide sehen will. Wir ahnen, dass er was zu sagen hat. Wir verabreden uns also im Starbucks um die Ecke und nach einer kurzen Einleitung erklärt er uns, dass er Sherry und ihren Brüdern jetzt Geld vermachen will und nicht erst, wenn er stirbt. Sie sollen ihr Leben jetzt genießen und nicht mehr so hart arbeiten müssen. So wie Sherry haben auch ihre Brüder ihr eigenes Unternehmen und stetig dafür gearbeitet. Sherry ist sprachlos, versucht ihre Fassung zu wahren, ich bin dabei, um auch sicherzustellen, dass alles verstanden ist. Für sie bedeutet das konkret, keine Sorgen mehr um das Haus und wie sie die hohe Rate jeden Monat bezahlen soll. Bis an ihr Lebensende braucht sie sich nie wieder ernsthaft Sorgen um Geld zu machen, der Druck ist weg. Tagelang kann sie es nicht glauben – verständlicherweise. Nächsten Monat soll das Ganze schon starten. Was für ein Wandel – sie nennt es Game Changer.

Endlich ist es richtig warm hier. Cafés, Bars und Restaurants haben ihre Holzterrassen auf den Gehwegen aufgestellt. Die Sommer hier sind kurz und werden daher um so mehr geschätzt. Die Optionen sind jetzt endlos: Tage am Meer, Sonnen, Baden, Festivals, road trips, Wanderungen, Wochenenden am See. Gereist wird dementsprechend hauptsächlich in der kalten Jahreszeit. Wir sind gut beschäftigt.

Spontaner Besuch bei Scott und Todd.

Wir versuchen die Arbeitstage früh zu beginnen und verbringen viele Nachmittage am Strand. Da Sherry etwas mehr Arbeit hat als ich, sind Sundae und ich immer gemeinsam unterwegs, ich verbringe viel Zeit im Park mit ihr, erziehe sie und so wächst sie mir mehr und mehr ans Herz.

Scott und Todd laden zu einer Gartenparty bei sich ein, im Winter sind die beiden wie vom Erdboden verschluckt.

In Pictou findet jährlich das Lobster Festival statt. Cyril ist dort aufgewachsen, seine komplette Familie lebt nach wie vor dort sowie einige seiner Schulfreunde. Somit fährt er regelmäßig in die Heimat. Er und John schlagen vor, mit ihnen das Festival Wochenende dort zu verbringen, wir sagen zu und dürfen sogar im Gästezimmer von Cyril’s Mutter nächtigen. Ein bisschen erinnert mich die Veranstaltung an ein großes Dorffest mit Kirmes, Umzug, Bierzelt und Musik am Abend.

Mitte Juli hat Beverly, Sherry’s Mutter, Geburtstag. Wir buchen drei Nächte in einem Cottage in Cambridge, inmitten verschiedener Weingüter. Die Gegend erinnert mich nach wie vor an das Pfälzer Weinland. Beverly sträubt sich zunächst bei dem Gedanken, drei Tage aus ihrer Routine geholt zu werden. Wochen vorher bereiten wir sie also auf den Trip vor, sie schwankt immer wieder hin und her, lässt sich letztendlich jedoch durch unsere Redekunst und die Bilder des schönen Cottage überzeugen. Unsere Unterkunft ist knappe zwei Stunden von Halifax entfernt. Auf dem Hinweg halten wir im Weingut Luckett zum Lunch.

Unser Cottage liegt direkt am See

Wir verbringen drei entspannte Tage im Haus am See. Tris, eine enge Freundin von Sherry, kommt uns an einem Nachmittag besuchen. Wir baden, testen das Kajak, ich fange beim Tauchen eine Wasserschildkröte und helfe Beverly bei der fragwürdigen und etwas lächerlichen Aktion, die Pfotennägel von Daisy, ihrem Hund zu lackieren. Beverly erzählt aus ihrem Leben, ich höre gerne zu, wenn sie Geschichten aus ihrem Leben teilt. Die Ruhe hier tut gut, es ist unglaublich friedlich.

An ihrem Geburtstag selbst gehen wir im Weingut Gaspereau essen und sie wird überrascht von der Familie, die bereits am Tisch auf uns wartet. Sie ist sehr gerührt.

Am selben Abend sitzen Sherry und ich spät bei klarem Himmel und romantischer Lichterkette im Freien.

Unsere Beziehung ist nach wie vor bereichernd, humorvoll und spannend. Sherry drückt aus, dass sie es sehr schwierig findet mit mir zu reden, da ich so verschlossen bin und sie keine Ahnung hat, wo sie steht. Sie sagt, ich muss mich öffnen, wenn ich eine gute Beziehung haben möchte. Meine Freunde würden ihr vielleicht widersprechen, da es mir mit ihnen leichter fällt, über alles zu reden. Die Barriere scheint groß, meine Gefühle zu verbalisieren.

Pride Halifax

Früher als angedacht ist es Ende Juli soweit: ich sitze am Flughafen und warte auf meinen Flug nach Frankfurt. Sherry kommt in drei Wochen nach und ich habe bis dahin etwas Zeit, um Freunde und Familie zu treffen. Ich sollte voller Vorfreude sein – Sommer in Deutschland – das habe ich doch so lange vermisst! Was ich jedoch in diesem Moment fühle, ist Traurigkeit. Es ist seltsam, Sherry nicht bei mir zu haben. Klar ist es schön, in die Heimat zu kommen, aber unterschwellig ist das Gefühl da, dass ich weder in Halifax noch in Mannheim vollkommen da bin. Tatsächlich lebe ich in Halifax mit Sherry und dem Hund Sundae, habe endlich mehr Kontakte, ihre Eltern haben mich ins Herz geschlossen. Beverly nennt mich liebevoll ihre andere Tochter. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich wirklich bereit bin, wieder in das hektischere Leben einzutauchen, habe mich an den Freiraum gewöhnt, an die entspanntere Gangart, die Nähe zum Meer. Schon lange ist klar, dass ich eine für mich sinnvollere Aufgabe brauche, wonach ich in Halifax bisher nicht gesucht habe. Sherry bedeutet mir mehr denn je. In den letzten Wochen ertappe ich mich dabei, wie ich sie ansehe und mir im Kopf die Worte sage, die ich nicht über die Lippen bringe. Sollte ich nächstes Jahr wirklich mein Leben in Deutschland wieder aufgreifen, bedeutet das viel Zeit getrennt, der Gedanke zerreißt mich innerlich. Ich habe die Befürchtung, dass ich immer hin und hergerissen sein werde. Meine Zeit weg von zu Hause war zu lang um einfach wieder einzusteigen, in Halifax habe ich ein zweites Zuhause gefunden.Vielleicht bin ich gerade auch einfach zu müde und zu dramatisch. Keine Ahnung, was in sechs Monaten sein wird. Sherry will nächsten Sommer quer durch Kanada fahren. Da ist es verlockend noch ein freies Jahr dranzuhängen.

Ich freue mich auf meine Geschwister, meine Eltern, meine Freunde.

Die Schattenseiten des Winters, Geburtstag und die Frage, was nun?

17 Januar – 24 März 2019

Vom ersten Moment an hier zurück tue ich mich richtig schwer. Viel Unmut, Traurigkeit, Zweifel, Heimweh und null Bock auf Küche.

Normalerweise zieht mich Sport immer aus der schlechten Laune, aber körperlich verausgaben, so wie ich das gerne hätte, funktioniert bei dem Wetter einfach nicht und zwei Mal die Woche Fitnessstudio reicht mir nicht. Als dann durch das viele Stehen noch Rückenschmerzen hinzukommen, ist meine Stimmung endgültig bei null. Sherry gibt ihr Bestes um mich aufzumuntern, was ihr auch immer wieder gelingt. Ich falle jedoch regelmäßig zurück in miese Stimmung. Eigentlich hatte sie gehofft, dass die Zeit in Deutschland mein Heimweh stillt, aber genau das Gegenteil ist der Fall.

Ich sehe nicht, wie wir unsere zwei Welten vereinen können, bin einsam, sie ist hier verwurzelt, ihre Arbeitswelt ist und bleibt hier und sie hat sich etwas aufgebaut, was man nicht so einfach aufgibt. Wahrscheinlich wäre sie sogar offen dafür, nach Deutschland zu kommen, aber ich bin mir sicher, dass die Heimat recht schnell rufen würde, so wie ich das gerade erlebe.

Wir müssen reden, haben viele Themen bisher nicht berührt. Wahrscheinlich, da wir beide wissen, dass es keine befriedigende Lösung gibt. Gegeben durch dieses persönliche Dilemma leidet meine Stimmung enorm, es schwingt immer etwas Trauriges mit und ich gehe mit schwerem Herzen durch die kommenden Wochen.

Nichtsdestotrotz tut Sherry mir gut, wächst mir immer mehr ans Herz, wir erleben viele schöne Momente gemeinsam. Ich mag ihre Sicht auf die Dinge, sie ist immer positiv, lässt sich nie entmutigen und findet für alles eine Lösung. Das Erlebnis der Beziehung mit Sherry ist neu. Ich fühle mich in meinem Sein durch sie nicht eingeschränkt, wir geben ein gutes Team ab, ergänzen uns, sind beide leicht im Umgang und flexibel.

An einem Samstag treffen wir uns mit Sherry’s Freunden und gehen Axt-werfen – eine spaßige Angelegenheit.

Nachdem Sherry entgültig entschieden hat, ihr Haus nicht zu verkaufen, nehmen wir uns als erstes ihr dunkelbraunes Bett zum Projekt für Veränderung: abschmirgeln, streichen und dann bekommt das gute Stück einen antiken Touch.

Dabei merke ich, wie es mir fehlt meine eigenen vier Wände einzurichten. Seit dreißig Monaten stelle ich mich auf andere Menschen und ihr Zuhause ein, schlafe in Hostels, bei Freunden, in Nachtbussen, eine Parkbank und ein Einmannzelt zu zweit war auch schon dabei. Ich weiß zwar noch nicht wirklich, wie es von hier aus weitergehen soll, aber der Gedanke, zurück nach Mannheim zu gehen, ist gerade verlockend – mich neu einrichten, eventuell sogar ein neuer Arbeitsplatz. Gleichzeitig habe ich Bammel vor der Routine nach all der Freiheit.

Eine schöne Abwechslung hier ist zur Zeit unsere gemeinsame Freundin Hatfield (eigentlich heißt sie auch Sherry, aber ich hab ihren Nachnamen zum Spitznamen gemacht). Nachdem sie und ihr Mann sich letztes Jahr getrennt haben, bot Sherry ihr an, bei uns zu wohnen bis sie im Februar in ihre neue Wohnung kann. Unsagbar dankbar nimmt sie das Angebot an und zieht kurz vor unserer Abreise nach Deutschland mit ein paar Taschen ein und hütet während unserer Abwesenheit Haus und Hunde. Jetzt zurück verbringen wir ein paar gemeinsame Wochen zu dritt und verstehen uns verdammt gut.

Wie jedes Jahr steht mein Geburtstag am 8.Februar an und präsentiert sich voller Überraschungen: Ich wusste ja, dass Sherry was im Schilde führt und am Abend vorher eröffnet sie mir, dass sie einen Kitesurf-Tag mit Privatlehrer für mich organisiert hat. Ich starre sie ungläubig an – bei dem Wetter? Null Grad und Regen. Sie: „Es gibt doch Neoprenthermoanzüge und du wolltest das doch schon immer hier ausprobieren nach deiner Erfahrung in Brasilien, bist doch gerne draußen.“ Meine Augenbraue zieht sich misstrauisch nach oben, doch je länger sie spricht, desto überzeugender wird sie. Sie zieht alle Register, ich traue mich nicht, mich zu beschweren über das Geschenk und beginne, mich geistig auf den nächsten Tag vorzubereiten. Ich packe also am Morgen meine Tasche, sie macht Geburtstagsfrühstück – veganen French Toast.

Als wir das Haus verlassen, zieht sie ganz demonstrativ ihre Regenjacke an – braucht sie, wenn sie Bilder von mir macht. Hmm… Jaja, schon klar, nicht witzig. Das Wetter ist garstig! Wir halten am Coffeeshop, um etwas Warmes dabei zu haben. Dann zückt sie einen Umschlag und meint, sie hätte vergessen, mir noch was zu geben. Ich öffne verwundert und finde einen Gutschein für das Wellness Spa nebenan. Mehrere Stunden Wellness – von wegen Kitesurfen. Sie lacht, ich schüttel sie – und ich hab ihr den Quatsch auch noch abgekauft! Sie muss jetzt in die Küche, Catering vorbereiten und holt mich später ab. Mit einem Kuss verabschiede ich mich und steige kopfschüttelnd aus.

Für den Abend hat sie einen Tisch im Restaurant Five Fishermen reserviert. Als ich frage, wie schick wir denn ausgehen und ob ich mein gewohntes Outfit tragen soll (nach wie vor habe ich hier nicht viele Klamotten und Schickes schon gar nicht), nimmt sie mich bei der Hand und führt mich ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt ein komplett neues Outfit, dass sie mir besorgt hat, was auch noch wie angegossen passt. Wir erleben Service vom feinsten, mit Prosecco aufs Haus, veganer Speisekarte, vorzügliches Essen, bekommen zwei Rosen, Dessert und Geburtstagskarte.

Am Samstag darauf ist Markt wie immer und ich gehe davon aus, dass wir danach Pizza essen gehen wie immer. Wir müssen nur kurz nach Hause wegen des Catering Jobs – das Essen wird zu Hause abgeholt, sagt sie. Ich gehe die Stufen zur Haustür voraus, schließe auf und bleibe verdutzt in der Türe stehen: überall Luftballons! Dann höre ich jemanden sagen: „Happy Birthday!“ und sehe Sherry’s Bruder Travis und Frau Diane, Cousine Brenda und Frau Simone, Hatfield – alle stehen sie da und grinsen mich an, alles ist dekoriert. Hat Sherry doch echt eine Party für mich organisiert und ich hatte keinen Schimmer!

Sherry’s Mutter Beverly kommt mit Mike, Freunde Scott und Todd, es gibt eine vegane Geburtstagstorte. In meinem Leben war ich noch selten so baff und noch nie hat jemand so etwas für mich gemacht. Alle haben Geschenke dabei und sind super herzig. Ich bin sehr gerührt. Die letzten Gäste bleiben bis spät in den Abend.

Nach der Party verbringen wir den Sonntag sehr gemütlich zuhause. Ich bin irgendwie immer noch verblüfft, wie sie das alles gemacht hat und sich vor allem so ins Zeug gelegt hat, um mir diese Freude zu bereiten.

Am Donnerstag drauf steht Valentinstag an. Das war ja noch nie mein Fall, wird bei uns im Deutschland eh nicht so wichtig genommen und auch nicht so gehypt wie hier in Nordamerika. Für meine Familie ist es zudem einfach Mamas Geburtstag. Sherry ist ganz erstaunt, dass ich noch nie einen Valentinstag mit allem Drum und Dran erlebt habe und meint deshalb erst, ok dann machen wir nichts – „Let’s do it the German way“.

Letztendlich einigen wir uns allerdings, schick essen zu gehen. Ich fühle mich außerdem dann doch herausgefordert, ihr eine Aufmerksamkeit zu machen. Also besorge ich ihr eine Kleinigkeit und verstecke am Abend vorher Herzen in ihren Stiefeln, in der Sichtblende im Auto, dann in der Küche und habe jedes Mal einen Heidenspaß dabei, wenn sie welche entdeckt. Sie überrascht mich mittags mit Blumen.

Für den Abend haben wir eine Reservierung im Ostrich Club, ein relativ neues Restaurant und Bar hier im Hydrostone-Viertel. Als wir uns fertig machen, hat sie das Bett dekoriert mit Rosenblättern und eine Tüte von LaSensa steht da für mich – feine Unterwäsche. Ich wähle ein Stück, ziehe mich an, Sherry trägt zum ersten Mal seit Jahren ein Kleid. Wir lassen uns ein Fünf-Gänge-Menü kredenzen, heute spielt Geld keine Rolle.

Ostrich Club: food and wine pairing

Zurück zu meinem Gemüt: Abgesehen von den Hoch-Momenten ist meine Stimmung schlechter denn je, geht fast schon ins Depressive. Ich wache oft mit schwerem Herzen aus, es fehlt ein tieferer Sinn in meiner Arbeit, nach wie vor das Heimweh und die Leere, die entstanden ist, da ich mich nach all den Menschen sehne, die mir vertraut sind, die mich zum Lachen bringen, mit denen ich mich jederzeit treffen konnte. Mitte März ist die Sonne zwar schon wieder stärker, aber in der Kälte weicht der Schnee nicht so schnell.

Erstes Sonnen Mitte März auf dem Deck

Ich bin nicht ausgelastet, schlafe schlecht. Eigentlich also eine glasklare Sache: ab nach Hause. Mein Bruder Baldi würde fragen, auf was wartest du noch? Sogar Sherry sagt, sie kann sich das nicht mehr mit ansehen, ich soll doch einen Flug nach Hause buchen. Klar hätte sie mich lieber bei sich, aber „du musst tun, was für dich gut ist!“

Mit ihr ist es mittlerweile so eng geworden, dass ich nicht einfach meine Sachen packen kann und gehen. Sie hat sich getraut und die drei Worte gesagt. Ich kann es nach wie vor nicht, hab generell aus verschiedenen Gründen meine Schwierigkeiten, über Gefühle zu sprechen. Zudem bin mir nicht sicher, was ich genau fühle oder ob ich mich einfach nicht traue, dieses Zugeständnis zu machen.

In der Tiefe unseres Herzens wissen wir immer die Antwort auf die wichtigen Fragen. Doch haben wir den Mut, sie zu hören?

Ganz klar empfinde ich Liebe für sie, aber diese Worte so auszusprechen, ist nochmal ne andere Nummer. Wir beide wollen die Beziehung nicht beenden, doch ich kann das auf Dauer so nicht, will inmitten von Familie und Freunden leben. Sherry versteht und hat wie immer Lösungsvorschläge. Sie ist sich bewusst, dass ich Freiraum brauche, schlägt vor, mich erst mal alle paar Monate zu besuchen. Meine Laune ist auf jeden Fall so nicht mehr lange tragbar, weder für sie, noch für mich oder uns beide. Ich kann mich so nicht ausstehen, kenne mich so gar nicht und bin so auch eigentlich nicht. Inzwischen ist für mich zumindest klar benennbar, was ich brauche, um fröhlich und ausgeglichen zu sein. Die Tage in Halifax scheinen gezählt, jetzt geht es darum, wann ich genau aufbreche, ob ich erst ein bisschen reisen gehe, bevor ich den Sommer zu Hause verbringe. Immerhin bin ich noch über ein Jahr freigestellt. Ein paar Monate reisen sollte ich einplanen um die Zeit voll auszukosten. Sherry ist offen dafür sich anzupassen, was auch immer ich entscheide.

An einem Morgen im März

Wir überlegen, gemeinsam eine Woche ins Warme zu reisen, denn der Winter kann sich hier bis in den Mai ausdehnen. Ich würde von dort aus, wahrscheinlich irgendwo in Mittelamerika, weiterziehen. Da meldet sich ihr Papa…

Der Winter zieht ein – es wird kalt und grau

Oktober – 21 Dezember 2018

Mit der Rückkehr des Winters hier wird es still, die Leute scheinen sich zuhause einzuigeln und verfallen, wie sie selbst sagen, in eine Art Winterschlaf. Konkret bedeutet dies, dass sich Freunde wesentlich weniger treffen, manche komplett von der Bildfläche verschwinden oder aber im Süden (Florida oder Mexico) überwintern. Die Wetterbedingungen erschweren an manchen Tagen die Bewegung im Freien, Gehwege können vereist sein, -10 Grad Celsius fühlen sich mit Wind schnell mal wie über -20 an. Meinerseits führt dies zu mehr einsamen Momenten und einmal mehr spüre ich, wie sehr ich ein großes und enges soziales Umfeld für mein inneres Gleichgewicht brauche. Ich vermisse mein Leben in Mannheim, meine geliebten Orte dort, Cafés, Restaurants, die Entwicklung der Stadt zu erleben; nach wie vor verfolge ich einiges auf Facebook. Mir fehlen meine Routinen, der intensive Sport, Aktivitäten mit Freunden und Familie, Geburtstage oder einfach Zeit mit meinen Geschwistern und Eltern. Jeden Morgen mit dem Aufwachen ist dieses Gefühl präsent. Der Alltag hier hat mich im Griff.

Sherry’s Küche am Hafen. Sundae ist immer mit am Start

Enge Beziehungen wachsen aus gemeinsamen Erfahrungen – gemeinsam lachen und weinen, geteilte Momente. Teil sein des Lebens des anderen.

Auf der anderen Seite ist da Sherry. Alles läuft entspannt natürlich mit ihr. Ihre Gegenwart tut mir gut und ich finde es spannend, sie immer näher kennenzulernen. Wir sprechen über die nächste Zeit und sie schließt mich gedanklich in all ihre Pläne ein. In keinster Weise engt sie mich ein, die Beziehung und Partnerschaft mit ihr ist bereichernd. Ich fühle mich von ihr angezogen, sie bringt eine neue Seite in mir hervor. Sie ist immer positiv, eine Macherin und Alleskönnerin. Mit ihr habe ich das Gefühl, nicht an alles denken zu müssen, kann mich auch mal zurücklehnen. Sie ist so vielseitig und offen für Neues und Veränderung; spontan wie ich selbst, ein großes Herz, unglaublich aufmerksam, sensibel, unkompliziert, nach außen taff aber eigentlich ganz sanft.

Schon als wir uns kennenlernten und sie erfuhr, dass ich aus Deutschland bin, meinte sie sofort, dass ich ihr das Land zeigen muss, da es doch nichts besseres gibt als jemanden zu haben, der sich auskennt, dort wo man reist.

Da momentan weder mein Heimweh nachlässt noch Sherry aufhört zu fragen, wann wir denn nun nach Deutschland gehen, einigen wir uns gemeinsam auf Weihnachten und Silvester. Wann immer Sherry verreist, bedeutet das für sie, keine Geldeinnahmen zu haben. Trotzdem lässt sie sich überraschend einfach von mir überzeugen, mindestens für drei Wochen zu gehen. Als Sherry’s Dad von unseren Plänen hört, ist er ganz begeistert, dass seine Tochter nach Europa gehen wird und kümmert sich kurze Zeit später ganz unerwartet um unsere Flüge – damit hätte ich nie gerechnet. Doch er will, dass wir sicher reisen und so kommen für ihn nur bestimmte Flugzeuge infrage. Unser Datum steht somit fest: wir landen am 22.Dezember in Frankfurt, sodass Sherry gerade noch den berühmten deutschen Weihnachtsmarkt erleben kann und werden 25 Tage bleiben. Mein Herz ist jetzt gar nicht mehr so schwer und ich zähle die Tage bis zu unserem Abflug.

Von Zuhause gibt es Neuigkeiten: Meine Schwägerin Diemy ist schwanger. Ich freue mich riesig für die beiden, da geht ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Schwester Anne zieht mit ihrem Freund zusammen. Bruder Baldi geht’s besser denn je. Nichte Soraya meldet sich regelmäßig, wir telefonieren und ich helfe mit ihren Schulsachen.

Verschiedene Ereignisse in den nächsten Wochen unterbrechen die Routine ein wenig:

Nachdem wir mithilfe der Jungs im Herbst den Garten verschönert hatten, steht nun eine Gartenparty an. Sherry lädt einige Freunde ein und ich die wenigen Personen, die ich abgesehen von Sherry’s Seite bisher Freunde nennen kann oder einfach gern mag. – noch neun Wochen.

Sherry fängt sich eine heftige Erkältung ein, die sich als ziemlich hartnäckig erweist. Ich kümmere mich mit Hausmittelchen um sie so gut ich kann.

Sie öffnet sich mir gegenüber ganz langsam, zeigt mehr Zuneigung. Eines Tages meint sie zu mir, dass ich nicht viel sage, was uns beide angeht. Ich erzähle viel und bin offen, was vergangene Dinge angeht, aber dagegen zurückhaltend in Bezug auf uns. Ich muss zugeben, sie hat recht und es ist nicht das erste Mal, dass ich das höre. Meine Stärke liegt im Handeln, was das angeht.

Sobald etwas laut ausgesprochen ist, wird es real und ich kann es nicht zurücknehmen. Meine Hemmschwelle unsagbar hoch.

31. Oktober – Halloween. Sherry ist da ganz groß und für sie ist vollkommen klar, dass wir an diesem Wochenende verkleidet zum Markt erscheinen. Ich schaue sie erst schräg an – Halloween ist bei uns ja nicht so populär. Zugleich weiß ich aber genau, dass ich aus der Nummer nicht rauskomme und entscheide im Gegenzug, voll mitzuziehen. Eine Woche vorher beginnen wir also in Secondhand- und Kostümläden unser Outfit zusammenzusuchen. Sherry’s Kreativität kennt keine Grenzen und wir haben einen heiden Spaß mit der Vorbereitung. Sie geht als Batwoman, ich als ‚Ingrid from the North’/ wilde Kämpferin. Auf dem Markt bringen wir einige Leute zum Schmunzeln und Staunen, bekommen viele Komplimente und laufen am Nachmittag so auch in unserer Pizzeria auf, Sherry nimmt nicht mal ihre Maske ab. Abends treffen wir ein paar von Sherry’s Freunden auf einer Halloween-Party. Manche Kostüme sind wirklich beeindruckend, hier wird das Thema absolut ernst genommen.

letzte Handgriffe um 4:30 in der Früh vor dem Markt

in action

in unserer Stamm-Pizzeria

Trick or treat – hier ziehen gefühlt alle Kinder los und klopfen an die Haustüren. Sherry lässt mich einen Kürbis aushölen, sie kramt ihre Halloween-Deko fürs Haus raus und gruselige Halloween-Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Wir empfangen die Kids als Batman und Joker. – noch sieben Wochen.

Kürbis aushölen muss sein. Auch die Nachbarn dekorieren fleißig

Batman und Joker sind bereit

Mitte November der erste heftige Schneefall:

Die Zeit rast. In knapp sieben Wochen ist Weihnachten. Ich freue mich riesig auf zuhause, auf Familie, Mama, Freunde; habe Träume, die mit meinem Heimweh verbunden sind; denke viel an unsere Familie, wie gut wir aufgewachsen sind, was für ein besonderes und enges Verhältnis wir miteinander haben.

Ein Freund vom Markt, Marcel aus Cuba, verkauft unter der Woche mit seiner Frau kubanisches Essen und spielt in seiner Freizeit in einer Band. Wir kommen zu einem seiner Auftritte in die Weinbar Obladee.

Wir gehen zur sogenannten Reception Party von Sherry’s Freunden John und Cyril, die ich im August auf der Pride Parade kennenlernte. Seitdem haben wir es leider nicht geschafft uns zu treffen. John ist aus England, wohnt aber schon seit über dreizehn Jahren in Kanada. Im Sommer gaben er und Cyril (von hier) sich in Irland das Jawort und feiern jetzt nochmal für die hiesigen Freunde. Zum ersten Mal putzen wir uns gemeinsam richtig raus und nehmen ein Taxi in die Innenstadt ins Irish Pub Old Triangle.

Anfang Dezember: Sherry holt den Plastikweihnachtsbaum aus dem Keller – ja, Plastik! Ich hab ihr auch gesagt, geht gar nicht! Ihre Entschuldigung: der Baum stammt noch aus ihren Zeiten als Restaurantbesitzerin. Jetzt einfach wegwerfen ist auch doof. Mit Beginn der Weihnachtszeit erinnere ich mich an die vielen Bräuche und Gewohnheiten von daheim.

So hat sie noch nie etwas von Adventskranz gehört – ich google und stelle fest, das ist was typisch Deutsches. Spontan entscheide ich, einen für uns zu machen, in moderner Version. – noch vier Wochen.

Außerdem bastle ich ganz heimlich im November einen Adventskalender für Sherry. – noch 21 Tage.

Für den Weihnachtsmarkt Anfang Dezember tun wir uns zusammen, teilen alle Kosten und später den Gewinn. Ein ganzes Wochenende stehen wir von morgens bis abends auf den Beinen und hatten viel Vorarbeit, doch die Schufterei lohnt sich! Außerdem bietet sich Sherry so eine weitere Gelegenheit uns beide in ein Kostüm zu stecken. – noch drei Wochen.

Zwischen uns wird es immer inniger und gleichzeitig fühle ich mich innerlich zerrissen. Ich vermisse Zuhause mehr denn je, weiß andererseits, dass ihr Platz hier ist, zumindest so lange ihre Mum da ist. Das alles sind Gedanken, die ich so noch nicht mit ihr teile. Ein bisschen zögern wir beide, über uns zu sprechen. Denn dann stellt sich die nächste Frage: und was machen wir jetzt damit?

Weihnachts-Cabaret am letzten Samstag vor unserer Abreise, was mich endgültig in Weihnachtsstimmung versetzt.

Und dann ist es soweit: noch einmal schlafen…

Road Trips! PEI (Prince Edward Island) und Cape Breton

24-27 September, 08-11 Oktober 2018

Der Sommer schreitet in großen Schritten dem Ende entgegen. Schon vor einigen Wochen schlug Sherry vor, ein paar Ausflüge zu machen bevor es ganz vorbei ist mit dem warmen Wetter.

Ihre Cousine Brenda und Frau Simone haben auf PEI ein Ferienhaus, hier Cottage genannt, und bieten uns an, die Gelegenheit wahrzunehmen und ein paar Tage auf der Insel zu verbringen. Ich selbst war vor über einem Jahr zum ersten Mal für eine Hochzeit dort, allerdings in einer anderen Ecke und abgesehen von Charlottetown und dem Hochzeitsspott ist mir die Insel noch unbekannt.

Ende September ist es dann soweit: wir schaufeln uns vier Tage frei und Sherry leiht sich das Cabrio ihres Dads, das er momentan nicht braucht. Die Hunde kommen mit, werden auf der Rückbank festgeschnallt und los gehts.

Dude und Sundae sind startklar

Wie erwartet sind die Straßen frei – bisher habe ich hier auch noch nicht einen einzigen Stau erlebt, der vergleichbar wäre mit dem, was man von deutschen Autobahnen kennt. Um auf die Insel zu gelangen, gibt es nach wie vor eine Fähre oder seit über zwanzig Jahren die Confederation Bridge, welche den Tourismus seitdem angekurbelt hat und auch unsere gewählte Route ist.

Gute vier Stunden sind wir unterwegs und erreichen am frühen Nachmittag Charlottetown. Stanhope by the Sea, wo wir eigentlich hinwollen, liegt ca zwanzig Minuten nördlich der Stadt an der Küste, doch das Wetter ist hervorragend und wir entscheiden, jetzt einen Stopp in der Innenstadt einzulegen, da wir uns sowieso mit ein paar Lebensmitteln eindecken müssen. Sundae und Dude lassen wir im offenen Cabrio zurück, den beiden nähert sich so schnell keiner.

In einem angesagten Café trinken wir Cappuccino und bummeln durch die Straßen. Wir lassen uns treiben von dem, was uns spontan anzieht: eine Bildergalerie, kleine Läden mit Einrichtungsdekoration und Schmuck oder das Ufergelände. Zu lange wollen wir die Hunde dann aber doch nicht sich selbst überlassen, halten an einem Supermarkt und steuern dann Stanhope an. Die einzelnen Grundstücke sind weitläufig und über eine Art Feldweg gelangen wir zu unserem Cottage, welches am Ende dessen liegt. Den Schlüssel finden wir wie vereinbart und betreten eine gemütliche feine kleine Oase, die sich sofort wie ein Zuhause anfühlt.

Unser einziges Vorhaben für die Tage hier ist Entspannung.

Dude macht direkt am ersten Abend Bekanntschaft mit einem Stinktier. Mit blinzelnden Augen kommt er aus dem Dunkeln zurück und Sherry weiß gleich, was los ist. Für mich ist der berühmt berüchtigte Geruch neu und ich lerne: wenns dumm läuft, hängt er ewig in den Räumen. Sherry hat Erfahrung und sagt, wir brauchen Tomatensaft, damit bekommt man den Gestank vom Hund. Außerdem vermutet sie, dass Dude einem Jungtier begegnet sein muss, da der Duft noch sehr milde wäre. Ich will mir intensivere Geruchslevel gar nicht erst ausmalen. Über die nächsten Tage wenden wir über Lüften, Kerzen und Kaffeepulver alle Tricks an, um den Geruch aus dem Haus zu treiben. Dude bekommt eine Ladung Tomatensaft verpasst, was er ganz tapfer wegsteckt. Zur Belohnung lassen wir die beiden am Strand rennen – Hunde sind hier eigentlich nicht erlaubt, aber weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen.

Tomatensaftbehandlung nach Stinktierbegegnung!

Wir verwöhnen uns mit gutem Essen (wie eigentlich immer), erkunden die Umgebung mit dem Golfcart, welches in der Gartenhütte parkt, entzünden ein Lagerfeuer und verbringen einen Regentag gemütlich im Haus.

Golfcart und Drinks – läuft!

Bei einem unserer Strandspaziergänge lasse ich Sherry wissen, wie froh ich bin, sie kennengelernt zu haben. Ich versuche offener mit meinen Gefühlen zu sein und diese auszudrücken – glaube ich zumindest.

In den folgenden Wochen spüre ich, wie wir eine neue Ebene erreichen. Ich will es mit ihr versuchen, bin offen für Neues, sehe zum ersten Mal seit langem wieder einen Weg vor mir, zumindest für die nächsten Monate.

Geh dahin wo du dich lebendig fühlst.

Unser zweiter Road Trip steht schon zehn Tage nach der Insel an: Cape Breton! Der Herbst gehört hier definitiv zur beliebtesten Reisezeit, wenn die Blätter der Laubbäume sich täglich wandeln und ein beeindruckendes Farbenmeer bilden.

Vier Tage und drei Nächte haben wir uns vorgenommen – und zum ersten Mal ohne Hunde! Sundae liefern wir am Morgen bei Sherry’s Neffen ab, dessen drei Töchter sich schon seit Tagen auf den Besuch freuen; um Dude kümmert sich eine alte Freundin.

Die Anreise dauert etwas länger als nach PEI und als wir am späten Nachmittag in Sydney ankommen, gehen wir einen Happen essen und anschließend direkt zurück zu unserer Unterkunft: Pool, Sauna, Whirlpool und ab aufs Zimmer – Sydney kann warten bis morgen.

Am nächsten Morgen ist Punkt eins auf unserem Tagesprogramm der Harley Davidson Store, ein Muss für Sherry. Wann immer sie in der Nähe eines Harley Stores ist, kann sie nicht widerstehen. Sie langt gut zu: zwei T-Shirts, ein Gürtel und Stiefel.

Danach begeben wir uns in den Stadtkern, trinken Kaffee in der belebtesten Straße und kommen erst einmal nicht weit, da der urige Secondhandshop nebenan unsere Aufmerksamkeit weckt. Bis zur Decke ist jeder Winkel des kleinen Ladens ausgenutzt: drei Reihen mit Kleiderständern, durch die man sich drängt, von den Wänden hängen Handtaschen, Gürtel und Schals, wir begutachten allerlei Schuhe, Vitrinen mit Schmuck und mehr. Richtig viel los hier – wenn ich mir die Kunden so anschaue, gehe ich schwer davon aus, dass heute ein Kreuzfahrtschiff angelegt hat, was sich später bestätigt, als wir an den Hafen kommen. Die Ladenbesitzerin wittert ihre Chance für guten Umsatz und bietet alles zum halben Preis an. Über eine Stunde verbringen wir mit Stöbern und finden einige Schnäppchen.

Als wir uns endlich losreißen können, spazieren wir Richtung Hafen, machen einen kurzen Stopp in einer Kirche, ein Selfie mit der größten Geige der Welt und schlendern über den Markt, der im Innern eines der Hafengebäude stattfindet: viel Schmuck und Kleider, hausgemachte Seifen und mehr. Ich entdecke einen besonderen Ring und kaufe ihn spontan für uns beide. Noch Monate später neckt sie mich damit, dass ich ihr geschickt einen Verlobungsring angesteckt hätte.

Als der Hunger ruft, entscheiden wir uns für das Restaurant ‚Flavour‘. Dort sitzt man entlang bodentiefen Fenstern mit Blick auf den touristischen Hafen.

In einem Irish Pub planen wir unseren Tag auf dem Cabot Trail. Dort gibt es an die dreißig Wanderwege mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Entfernungen.

Als es dämmert, brechen wir auf zu Sherry’s Freundin Pam, die beiden waren zu Schulzeiten beste Freundinnen und haben sich vor fünfzehn Jahren das letzte Mal gesehen. Pam wohnt mit ihrem Mann Mark ungefähr eine halbe Stunde außerhalb Sydney. Als wir in die Hofeinfahrt kommen, parken wir vor einem beeindruckenden Anwesen mit Blick aufs Meer. Pam empfängt uns sehr herzlich, sie hat eine aufgeweckte positive Ausstrahlung. Wir stoßen an mit einem Glas Wein, bekommen eine Hausführung und schreiten dann über den Hof Richtung Gästehaus. Nach dem Rundgang im ersten Stock treffen wir unten auf Mark. Das Erdgeschoss wirkt wie eine Garage oder ein Werkraum. Mark führt uns in den Nebenraum: im ersten Moment denke ich an ein Gewächshaus, sehe einen Traktor, rieche Heu… ich blicke nach links und sehe einen Stall mit Pferd. . . . EIN PFERD IM GÄSTEHAUS! Echt jetzt?! Ich traue meinen Augen nicht, bin ganz aus dem Häuschen und fühle mich wie in Pippi Langstrumpf. Sherry amüsiert sich über meine Begeisterung und schlendert dann mit Pam zurück zum Haus. Ich bleibe mit Mark für ein paar Minuten beim Pferd, er bietet mir an, es zu striegeln. Zuhause sind wir mit Pferden aufgewachsen, der Stallgeruch ist angenehm vertraut und weckt viele Kindheitserinnerungen.

Danach kochen wir gemeinsam, Sherry und Pam plaudern von alten Zeiten, Mark erzählt, wie es ihn nach Kanada verschlagen hat. Ursprünglich kommt er aus Holland und wuchs auf einer Farm auf. Heute arbeitet er in der Politik, tatsächlich ist er der Minister of Agriculture. Pam verbringt viel Zeit mit ihren Enkelkindern, von denen es einige gibt. Mir gefällt das Familienfoto, das sie uns zeigt, während sie von den Kindern erzählt: Schwiegerkinder aus Mexiko und Indien. Dementsprechend bunt ist die Familie – kommt mir sehr bekannt vor.

Pam und Mark sind beide angenehm offen und scheinen trotz ihres Wohlstands sehr am Boden geblieben.

Am Mittwoch morgen fällt das Aufstehen nach der kurzen Nacht nicht ganz leicht. Zudem haben die Matratze und die Kissen Memory-Foam, wofür ich in den letzten zwei Jahren eine Vorliebe entwickelt habe – wenn man auf Dauer in fremden Betten schläft, wird man da wohl Experte. In der Küche finden wir ein Frühstück ganz nach unserem Geschmack vor: Müsli aller Art, Soyayogurt, Früchte, Soyamilch und guter Kaffee. Verantwortlich hierfür ist Mark, der an diesem Morgen schon das Pferd auf die Koppel gebracht hat und sich nun zu uns an den Tisch gesellt. Pam taucht wenig später auf und zu viert quatschen wir über dies und das.

Letztendlich brechen Sherry und ich auf zum Cabot Trail: wir haben Glück und die Sonne lässt sich blicken, was die Farben der Laubbäume umwerfend leuchtend macht.

mit hochgefahrener Heizung ist Cabrio kein Problem.

Drei Wanderwege haben wir uns ausgesucht, manche davon sind nur zwanzig Minuten lang, falls ihr euch fragt, wie das in einem Tag zu bewältigen ist. Witzigerweise stoßen wir auf Nigel’s Schwester (ein Freund vom Markt), die gerade mit Partner und Eltern zu Besuch ist. Wie hoch sind die Chancen bitte dafür??

Inverness Beach

Was für ein Ausblick!

Teile eines Wanderweges sind gesperrt wegen ralligen Elchen, mit denen in dieser Verfassung nicht zu spaßen ist. Später sehen wir zwei aus der Ferne an einer Flussmündung.

Unsere Unterkunft für die letzte Nacht ist einfach aber okay. Die Küche hier kann uns Veganern allerdings außer Gemüsebrühe und Kartoffeln nicht wirklich etwas anbieten. Zum Ausgehen sind wir zu müde und so entscheiden wir uns für Dusche, mampfen die letzten Cracker und schauen einen Film. Was für eine kalte Nacht! Sherry fängt sich eine Erkältung ein.

Unser letzter Tag bricht an und wir sind hier am Margaree River, wo Sherry’s verstorbener Bruder oft Fischen war. Nach ihren Erzählungen und den Bildern, die ich gesehen habe, kann ich ihn mir hier genau vorstellen. Wir halten an mehreren Stellen entlang des Flusses, waten ans Flussufer und sie streut seine Asche. Ich spüre, wie ein Teil ihrer Wunde des Verlustes ihres nahestehenden Bruders heilt. Wir machen uns auf den Heimweg.

Sherry schlägt vor, zum Lunch in der Glenora Whiskey Distillery zu halten. Das Anwesen weckt Erinnerungen an Weingüter in der Pfalz und gute Momente mit Freunden.

Am Canso Causeway, die Verbindung zwischen Cape Breton und dem Festland, sehe ich Personen, die aufs Wasser blicken und im nächsten Moment weiß ich, warum: Delfine! Wir wenden und parken, um zu schauen, was hier genau los ist: Hunderte Delfine, die komplett aus dem Wasser springen – wow! So stehen wir eine Weile und betrachten das Schauspiel, bevor wir unsere Heimfahrt fortsetzen, die sich bis in den Abend zieht.

Geh auf Reisen. Entdecke unbekannte Orte. Sammle und teile Momente. Umgebe dich mit guter Energie. Verbinde dich mit Menschen. Lerne Neues.

Camping Wochenende – endlich mal wieder ein Hauch von Reisen

15 – 17 September 2018

Da wir uns während unseres Kajaking Ausflugs so gut verstanden, vereinbarten Sherry, Trish, Sherry und ich, gemeinsam campen zu gehen, bevor der Sommer vorbei ist. Mitte September ist es soweit: wir reservieren einen Platz auf „Murphy’s Camping on the Ocean“ in Tangier, östlich von Halifax direkt an der Küste und die Wetteraussichten könnten besser nicht sein.

Um die Verbindung noch kurz klarzustellen: meine Sherry und Trish kennen sich schon seit bald zwanzig Jahren. Trish ist leidenschaftliche Motorradfahrerin und geht mit dem Ehemann der anderen Sherry regelmäßig auf Tour.

Sherry und ich leihen uns ein riesen Zelt vom Markt, erklären uns bereit, die Verpflegung für uns vier zu übernehmen und wollen die beiden Mädels mit außergewöhnlichem und dennoch campingfreundlichem Essen überraschen. Sherry hat aus ihren Jahren als Restaurantführerin zudem alles, was auch nur im Entferntesten mit Küche zu tun hat.

Am Samstag früh verkaufen wir noch wie jede Woche auf dem Markt, packen aber ausnahmsweise eine Stunde früher zusammen, laden das Auto und machen uns auf den Weg ins Wochenende.

Lediglich eine gute Stunde dauert die Anreise. Trish’s Zelt steht schon und Sherry schläft in ihrem Auto. Nach einer herzigen Umarmung bauen wir unser Zelt in zwanzig Minuten auf und Sherry richtet innen alles für unser Überraschungs- Candlelightdinner her, während ich mit Trish und der anderen Sherry (ich nenne sie im Folgenden der Einfachheit halber Sherry2) quatsche. Irgendwann fragen die beiden sich dann aber doch, was Sherry so lange im Zelt treibt. Als sie dann den gedeckten Tisch und den dekorierten Raum im Zelt präsentiert, schüttelt Trish den Kopf und lacht, da sie Sherry zugetraut hätte, im Wohnwagen anzukommen anstatt ganz banal zu zelten. Sherry2 ist ganz aus dem Häuschen und begeistert vom Luxus. Ich lerne ein neues Wort: Glamping – die Verschmelzung aus Glamour und Camping.

Candlelightdinner im Zelt – Glamping vom Feinsten

Musik, viel Sonne, tiefgehenden und unterhaltsame Gespräche, wir begeben uns auf einen kurzen Trip mit einem uralten Ruderboot – dementsprechend kommen wir nicht wirklich weit; Trish hat ihr Kajak mitgebracht. Wie immer am Wasser muss ich zumindest einmal kurz schwimmen gehen und es ist gar nicht so kalt wie befürchtet. Der Sternenhimmel in der Nacht ist umwerfend und erinnert mich an so manche Nacht in Südamerika.

Trish und Sherry; Sherry im Campingoutfit und beim Tanz mit den Hunden

Trish’s Kajak steht bereit; wir vier Tusneldas schlagen uns mit dem alten Ruderboot rum

kurzer Ausflug im Ruderboot

Sundae liebt Wasser – typisch Neufundländer

Nach dem Candlelightdinner am ersten Abend verwöhnen wir uns mit üppigem Frühstück und veganen Burgern – mobile Herdplatte machts möglich.

herzhaftes Frühstück: potatoes, baked beans and vegan sausages

Zwischen Sherry und mir entwickelt sich mehr und mehr Vertrautheit, ich bin vollkommen entspannt in ihrer Gegenwart. Alles fühlt sich echt und natürlich an, ihr positives Lebensgefühl, mit dem sie jeden Morgen aufwacht, tut mir gut.

Am Montag früh schlagen wir nach letztem gemeinsamen Frühstück die Zelte ab und begeben uns auf den Heimweg. Da wir keinen Zeitdruck haben, hält Sherry mit mir am Strand in Laurencetown für einen Spaziergang. Die Strände hier sind im Sommer wirklich traumhaft.

Spaziergang mit Sherry am Meer; Dude und Sundae genießen die Weite und Sundae nutzt mal wieder ihren Charme aus.

Sherry’s Freunde und Familie fragen nach der neuen Frau an ihrer Seite und einige melden zurück, dass sie gleich etwas zwischen uns gesehen haben, was uns beide sehr amüsiert und erstaunt, da weder sie noch ich auch nur im Entferntesten ahnten, dass sich unsere Beziehung so entwickeln würde.

Sag niemals nie.

Einleben, aus Freundschaft wird mehr, Besuch aus Deutschland!

31 Juli – 15 September 2018

Zurück aus Montreal gewöhne ich mich in den folgenden Wochen an mein vorerst neues Zuhause. Nach wie vor ist Sommer und Sherry stellt sicher, dass mir nicht langweilig wird.

  • Crystal Crescent Beach

  • Tag am Pool im Haus von Sherry’s Dad in Chester mit Abendessen im Restaurant Rope Loft direkt am Wasser

  • Kayaking mit Trish, Sherry und Sherry (ja, da gibt es noch eine zweite) bei Blue Rocks. Auf dem Heimweg halten wir in einem Pub in Chester und essen die besten Onion rings ever!

Kayaking at Blue Rocks

  • Jährliches Busker Festival in Halifax: von Feuerspuckern über Comedians bis hin zu Magiern versammeln sich die besten Straßenkünstler an der Waterfront. Genau vor einem Jahr kam ich zum ersten Mal nach Halifax! Sherry führt mich an diesem Wochenende aus in die legendäre Bar Lower Deck; wir bleiben lange, denn die Band hat’s drauf!
  • Nine and dine: Golfen mit Sherry und Freunden bis zum Sonnenuntergang.

Mein Gemütszustand: Ich bewege mich nicht genug, habe keinen Rhythmus hier was laufen angeht und trinke meinem Empfinden nach zuviel. Die Kombi zieht mich emotional runter. Außerdem schreibe ich nicht genug, mein Visum läuft bald aus und die Frage steht im Raum, wie’s weiter geht. Viel Arbeit, was ablenkt, mich aber auch nicht weiterbringt und nicht fühlen lässt, was wirklich los ist in mir. Wache immer mal wieder mit schwerem Herzen auf. Und dieses Heimweh ist ganz schön penetrant.

Mitte August komme ich aus der Negativspirale raus: trinke weniger, laufe mehr, spaziere mit Hund Dude im Park, mache meine Übungen. Die Auswirkungen auf mein inneres Gleichgewicht sind enorm. Sherry schleppt mich zum neuen Fitnessstudio in der Nähe, das sie ausprobieren möchte: zwei Wochen testen sind frei, sie will definitiv weitermachen, ich denke zunächst, dass ich wahrscheinlich auch zufrieden bin mit laufen und schwimmen, als einstige Fitnesssüchtige bleibe ich dann aber doch dabei – das Programm ist gut und powert aus.

Mit Maddie verabrede ich mich zum Wandern, was meinem Herz unglaublich gut tut!

Bluff Wilderness Trail

Besuch bei Olga. Wir trinken Kaffee auf ihrer Terrasse, ich genieße wie immer ihre Art zu denken, höre ihr gern zu. Wir schwimmen am privaten Meereszugang ihrer Nachbarn. Idylle pur.

Sherry und ich entwickeln erste gemeinsame Rituale und Routinen:

Dinner und Kino am Dienstag: abwechselnd wählt einer von uns Film und Restaurant, der andere zahlt. Samstags nach dem Markt kehren wir ein in die Pizzeria Salvatore’s, dabei war ich nie Pizza Fan. Mittwoch und Sonntag sind unsere freien Tage, die wir im Fitnessstudio beginnen.

Sherry amüsiert sich darüber, dass ich ganz ohne Aufforderung die Hundefütterung übernommen habe. Gegen sechs Uhr morgens weckt Sundae uns, indem sie mit ihren Vorderpfoten von einer Seite aufs Bett kommt und denjenigen anstupst, auf dem sie mit ihrem riesigen Körper gerade liegt. Und sie wächst von Woche zu Woche! Schnell hat sie kapiert, dass das Futter jetzt von meinen Händen kommt und steuert morgens nun direkt mich an.

In der vielen gemeinsamen Zeit lerne ich Sherry schnell besser kennen: Sie ist unglaublich positiv, unkompliziert, so humorvoll, dass sie mir fast täglich Tränen in die Augen treibt, lebt ihr inneres Kind. Nach außen taff und stark, ist sie eigentlich höchst gefühlvoll, sensibel und verletzlich. Sie erzählt viel aus ihrem Leben, ist eine attraktive gutaussehende Frau, hat unendlich viele Talente, Menschen, die sie gern hat, hilft sie ganz selbstlos und liebt Hunde, besonders Neufundländer.

Ganz schön viel Nähe – und so kommen wir uns wirklich ganz ungeplant eines Tages doch näher als gedacht. Obwohl ich mich in dieser Beziehung als schüchtern bezeichnen würde, mache ich einen Schritt auf sie zu und lerne mich so selbst von einer neuen Seite kennen. Unsere Umgebung ist begeistert von der neuen Art der Verbindung.

Ich bekomme Besuch aus Deutschland – genau das, was ich mit meinen Heimwehgefühlen brauche: Der Sohn von guten Freunden von meinen Freunden und liebevoll so genannten zweiten Eltern Vera und Rainer reist mit bestem Freund durch Canada und USA. Die Jungs bleiben über eine Woche und genießen es, sich auszubreiten und nicht nach zwei Tagen wieder einpacken zu müssen. Wir bringen sie zur Pizzeria um die Ecke, gehen abends zusammen aus, ein Tag Lunenburg und in der Umgestaltung des Gartens werden sie eingespannt. Auch wenn wir nicht direkt befreundet sind, tut es gut, Menschen aus der Heimat da zu haben, den Dialekt zu hören und zu sprechen, sich über Zuhause zu unterhalten.

Die Jungs kochen für uns

Pizzeria Salvatore’s

Project Backyard

Bar ‚Your Father’s Moustache‘

Peggy’s Cove

Lunenburg mit Stop für die besten Onion Rings

Durch die Ferne wächst die Liebe für Zuhause.

Eines Tages helfe ich Sherry bei einem Catering Job für eine Erinnerungsfeier für einen Mitarbeiter vom Markt, der gerade gestorben ist. Wir bringen das Essen und bleiben, unterhalten uns hier und da, Nigel setzt sich zu uns. Für Sherry ist es das erste Mal in diesem Raum seit der Feier für ihren verstorbenen Bruder, dessen sogenannte ‚Celebration of Life‘ vor nicht mal einem Jahr hier stattfand. Nach den ersten Programmpunkten rollen ihr die ersten Tränen über die Wange und dann wird alles ganz schnell zu überwältigend. Wir verschwinden durch den Hinterausgang. Zuhause angekommen verzieht sie sich direkt ins Badezimmer, teilt aber ihre Gefühle und Gedanken mit mir. Ich bringe ihr ein Glas Wein, einen Happen zu essen und geselle mich zu ihr in die Badewanne. Wir reden, ich erzähle von Angela, meiner leiblichen Mutter, was mehr Nähe zwischen uns schafft. Ich kann nachvollziehen, wie schwer der Schmerz und Verlust des Bruders zu ertragen sein muss. Ich habe sie unglaublich gern, sehe immer mehr Tiefe in ihr, will mehr Zeit mit ihr.

Wenn eine Persönlichkeit mich fesselt, wird jede Form des Ausdrucks an ihr zum Genuss. Oscar Wilde

Erste echte Freundschaften, Moment der Entscheidung und endlich Sommer

01 Mai – 10 Juli 2018

Das war mit Abstand meine längste Schreibpause und ich weiß, dass einige von euch nach wie vor fast täglich auf neue Nachrichten von mir gewartet haben. Die letzten Monate haben viel Veränderung mit sich gebracht und obwohl mein schlechtes Gewissen mich über diese Zeit geplagt hat, scheint es rückblickend besser, euch jetzt eine Zusammenfassung über die Entwicklungen zu geben, um möglichst respektvoll mit involvierten Gefühlen umzugehen.

Um meine jetzige Situation nachvollziehen zu können, hier also ein Überblick, was sich in siebzig Tagen getan hat, mit dem Fokus auf Information.

Erfolge mit „HOLDER is vegan“: Der Markt am Samstag läuft gut, Sonntag und Mittwoch Nachmittag mache ich auch mit; allerdings mehr, um zuhause raus zu kommen und wegen der Geselligkeit auf dem Markt. Auf einem Straßenfest sind wir an einem Sonntag mit einem kleinem Tisch zwischen Food Trucks vertreten und ich verkaufe zum ersten Mal auf einer Messe: Body Mind & Spirit Expo in Halifax, was ein voller Erfolg wird.

Ende Juni habe ich meine Produkte abgesehen von Noggins jetzt in einem kleinen Shop am Hafen und beliefere zweimal die Woche ein Café. Meine Facebookseite hat immer mehr likes, ich bekomme ausschließlich positive Rückmeldungen auf dem Markt und sehe jede Woche wiederkehrende Kunden. Wenn ich das alles so betrachte, kann ich selbst kaum fassen, wo ich gerade stehe und was ich mache. Ich gelange in eine Stimmung, in der ich mir vorstellen kann, das Ganze laufen zu lassen und zu schauen wie weit ich es treiben kann.

Mein Heimweh verschwindet nicht. Ich sehne mich nach Menschen, Lachen, Freunden und kann mir nicht vorstellen, dass ich das so noch lange aushalte. Andererseits sehe ich mich nach wie vor noch nicht zurück in Deutschland. Als meine Gedanken eines Abends zu belastend erscheinen, breche ich in Tränen aus und Robyn zeigt sich wieder einmal verständnisvoll auf allen Ebenen. Der Tag, an dem ich aufbrechen werde, ist für mich nur schwer zu visualisieren, dennoch weiß ich, dass da draußen noch mehr auf mich wartet und ich wieder Energie für Neues habe.

Eine Handvoll interessante Personen, mit denen ich gerne Zeit verbringe, gibt es mittlerweile:

  • Nigel: er verkauft neben mir seine Fotografien, stammt aus England, arbeitete lange für die Royal Airforce und hat seine Frau sturzbetrunken in einer Bar kennengelernt, für ihn war am ersten Abend klar, dass er sie heiraten wird. Er ist ein guter Geschichtenerzähler und Zuhörer und bringt mich oft zum Lachen. Seine sanfte Natur, seine Ehrlichkeit und offene Art und sein Humor machen ihn zu einem angenehmen Zeitgenossen.
  • Wes: vor einigen Jahren ist er mit seiner Frau aus Mexiko gekommen. Er studiert und verkauft am Wochenende traditionellen Schmuck aus Mexiko. In den letzten Wochen ist er total aufgetaut und redet am laufenden Band. Von Deutschland ist er begeisert, will neue Wörter lernen, fragt viel, weiß viel. Mir gefällt wie vielschichtig er ist, so viel mehr als der erste Eindruck. bübisch, neugierig, belesen, auf der Suche, gefangen in Strukturen, denkt zu viel an die Zukunft, sollte impulsiver leben.
  • Dave: Musiker, arbeitet für eine Brauerei in Robyn’s Stammkneipe an der Bar; guter Geschichtenerzähler, ehrlich, sympathisch, angenehm. Ich gebe ihm regelmäßig eine Kostprobe von meinem Gebackenen und er gibt gewissenhaft Feedback.
  • Olga: mit ihrer direkten Art kann ich gut umgehen, die Liebe für ihren Hund Ella bringt mich oft zum Schmunzeln, ich mag ihre erfrischende Sicht der Dinge.

mit Ella im Shubie Park

Meine Freizeit verbringe ich nach wie vor mit laufen, lesen, sonnen (sofern das Wetter es zulässt). Alles in allem ist das alles hier nicht genug Action für mich. Jetzt, da ich mal wieder einen Alltag lebe, spüre ich, wieviel mehr ich brauche. Ich beobachte das Wetter in Deutschland: dauerhaft 30 Grad! Nie wieder werde mich dort über das Wetter beschweren! Hier waren es an einem Tag Anfang Juni fünf Grad – ich fühle mich zurück versetzt in den Januar. Meine Aufbruchstimmung wird größer, die Routine lästiger, die Sehnsucht nach Abenteuer wieder stärker.

Dachterrasse Celtic Corner und Gänse am Sullivan’s Pond

Was ich in den letzten Wochen vom Zustand von Robyn’s Vater mitbekomme, hört sich nicht gut an und ich glaube nicht, dass er sich von den letzten Monaten erholen wird. Robyn und ihre Geschwister haben ein enges Verhältnis zu ihm – das wird hart. Die Geschwister wechseln sich ab, um bei ihm in Montreal in der Klinik zu sein.

Sherry feiert Geburtstag im ‚Bistro chez Liz‘ in Downtown Halifax. Zur Erinnerung: sie verkauft auf dem Markt gegenüber von mir und bei ihr waren wir anlässlich ihres neuen Hundes eingeladen. Ich gehe allein, da Robyn in Montreal ist. Ich mag Sherry, sie strahlt immer und ist eine ehrliche Haut.

Todd, Sherry und ich

Auf dem Markt unterhalte ich mich mit einem Typ, der mit Trüffeln handelt. Wir verstehen uns gut, unterhalten uns eine Weile, was mich an Gespräche mit Reisenden erinnert. Wir tauschen Nummern aus, völlig ohne Hintergedanken und um Kontakte zu erweitern. Robyn ist sofort angespannt – ein wenig Eifersucht ist kein Problem, doch sie lässt das Thema tagelang nicht ruhen, ist vollkommen verunsichert. Ich kann sie insoweit verstehen, als dass ich sparsam mit Zuneigung umgehe und sich die Gefühle in unserer Beziehung nicht die Waagschale halten. Wir durchleben ein paar schwierige Tage, und ich spiele mit dem Gedanken, die Zelte hier abzubrechen, da ich sie augenscheinlich verletze. Eine Woche später glätten sich die Wogen vorerst.

Sherry bietet mir an, ihre Küche mit ihr zu teilen. Nach den einsamen Wochen zuhause kommt mir dieses Angebot wie gerufen. Die Gesellschaft macht das Arbeiten wesentlich angenehmer und unterhaltsamer. Wir verstehen uns so gut, dass wir schnell auch außerhalb der Arbeit Zeit miteinander verbringen. Ich erzähle ihr von meiner Einsamkeit in den letzten Monaten und so nimmt sie mich mit ins Kino, zu einem Hundeevent und an einem Abend gehen wir in die angesagte Bar Kismet. Wir lernen uns langsam näher kennen und mein gutes Gefühl mit ihr bestätigt sich.

„Hair of the dog“ in Garrison Ground Park

Bar Kismet

Während meiner Zeit alleine erweitern sich meine sozialen Kontakte. Ich besuche Mel und Maddie zuhause und begleite Olga zu ihrem Ikea shopping.

Mitte Juni sieht es so aus als könnte Robyn’s Vater jeden Moment sterben. Er bekommt Morphin und spricht kaum noch. Sie wird nun vermutlich bis zum Ende bei ihm bleiben. Ich genieße meinen Freiraum hier, bin noch dazu verwöhnt mit dem Auto von Lynette, habe das Bett für mich, meinen natürlichen Essensrhythmus, fühle mich insgesamt gut. An einem Abend spaziere ich entlang Lake Banook und verbringe einen Tag am Conrad’s Beach.

Lake Banook

Conrad’s Beach

Sherry fragt mich, ob ich Lust habe, zwei Nächte mit ihr wegzufahren, eine Freundin in Ponds, nähe New Glasgow, direkt am Meer zu besuchen – ich sage direkt zu. Erstens weiß ich nicht, wann Robyn aus Montreal zurückkehrt; zweitens freue ich mich über die neue Freundschaft, bei der ich direkt spüre, dass sie tiefer geht und zu meinem Wohlbefinden im fremden Land beiträgt; drittens ist es eine Begegnung, die nicht über Robyn entstanden ist. Klar bin ich dankbar, dass sie mich immer und überall einbezieht, letztendlich sind es jedoch ihre Freunde und ich brauche meinen eigenen Kreis, eigene Freunde. Wer mein Leben wie es in Deutschland war, kennt, kann mich wahrscheinlich besser verstehen.

Robyn’s Dad stirbt. Unglücklicherweise fällt ihr Rückflug auf den Abend, bevor ich mit Sherry losziehen will und sie ist ganz und gar nicht begeistert von meinen Plänen. Sie kämpft mit den Emotionen über den Tod ihres Vaters, Eifersucht kommt ins Spiel, außerdem fühlt sie sich in den letzten Tagen nicht genügend von mir unterstützt. Ich dagegen bin davon ausgegangen, dass sie im Kreise ihrer Familie genügend Rückhalt hat, bin überrascht von ihrem Vorwurf und sehne mich nach einer kurzen Auszeit, hatte viel um die Ohren in letzter Zeit: der Umzug in die Küche, mein Business zieht an und somit mehr Stunden in der Küche, ich helfe ihrem Bruder Willy beim Umzug, kümmere mich einen Tag um ihre Mum, zehn Tage Catsitting hinter mir und versorge Willy’s Hund, der mir direkt aufs Sofa pinkelt. Ich muss raus hier und habe mich daher riesig auf den Trip gefreut. Gleichzeitig kann ich Robyn’s Enttäuschung nachvollziehen, fühle mich allerdings durch ihre Erwartungen in meiner Freiheit eingeschränkt – kombiniert mit etwas Sturheit entscheide ich mich für den Trip mit Sherry, was den endgültigen Wendepunkt unserer Beziehung markieren wird.

Ich hole die ganze Familie Montag abend vom Flughafen ab, habe ein anstrengendes Gespräch mit Robyn und breche am nächsten Morgen gegen zehn mit Sherry auf.

When you recover or discover something that nourishes your soul and brings joy, care enough about yourself to make room for it in your life. – Jean Shinoda Bolen

Warten auf den Frühling, Sehnsucht nach Geselligkeit und erste Gewinne

01 März – 30 April 2018

Mitte März noch keine Spur von Frühling, viel Regen, Grau, windig und kalt. Emotional geht es hoch und runter.

Hochs: Samstags auf dem Markt gehe ich auf in den sozialen Kontakten und halte mit jedem ein Schwätzchen. Je nach Wetter steht Laufen oder Schwimmen an, Bewegung hebt die Stimmung. Ich genieße die Ruhe im Pool, die gleichförmigen Bewegungen ähnlich wie beim Laufen. Lachanfälle mit Robyn garantieren ein Minimum an Heiterkeit.

market life

Robyn bringt mich zum Lachen

Tiefs: Einsamkeit, Sehnsucht nach Austausch mit Freunden und Familie, ich vermisse gemeinsame Momente, manchmal fällt mir hier die Decke auf den Kopf. Das graue Wetter wird langsam zu viel, das hatte ich auch in Deutschland – dafür aber auch hunderte Dinge, die ich dort mit anderen tun kann. Ich vermisse das Unterrichten, eine sinnvolle tiefgreifende Aufgabe. Einerseits tut die Routine gut, andererseits wächst das Gefühl aufzubrechen zu neuen Abenteuern. Ungeduldig warte ich auf wärmeres sonnigeres Wetter.

Ende März rutschen wir nach nur zwei Monaten mit „HOLDER is vegan“ in die schwarzen Zahlen! Die vegane Bewegung ist hier zwar noch nicht so fortgeschritten wie in den Großstädten, aber der Bedarf wächst. Unseren ersten Gewinn hauen wir direkt auf den Kopf und gehen am selben Abend essen.

Aufgrund meiner Einsamkeit überlege ich ein paar Tage nach Montreal zu fliegen um Freunde dort zu sehen und mal wieder echtes Stadtleben zu genießen. Denn die Unzufriedenheit wird größer und mein Herz leidet zu sehr. Robyn fragt mich eines Tages, ob ich glaube, depressiv zu sein. Nein. Ich bin einfach zu allein – wie eine Blume, die nicht genug gegossen wird, fehlen soziale Kontakte. Ich werde launisch und unausgeglichen. Das Traurige ist, dass ich mich mit Robyn blendend verstehe, aber auf Dauer genügt das nicht. Immer wieder die Frage, wie lange bleibe ich? Bis in den Sommer, bis das vegane Projekt keinen Spaß mehr macht oder bis ich wirklich depressiv werde? Wenn ich andererseits wirklich dreimal die Woche Markt mache, lebt es sich wahrscheinlich auch leichter. Meine Reserven bezüglich Routine sind auf jeden Fall bald wieder aufgefüllt.

Licht und Schatten

Was ist sonst noch los hier?

Ich bin in regem Kontakt mit meinem Bruder Baldi, was gut tut und unsere Beziehung auf eine andere Ebene hebt.

Kaum zeigt der Kalender April, werden Sommerkleider, kurze Hosen und Shirts ausgepackt. Interessiert anscheinend nicht, dass das Thermometer nach wie vor um die Null Grad Marke abhängt.

Die Grammar School in Halifax kontaktiert mich und ich mache ein paar Tage Vertretungsunterricht.

An Ostern videochatte ich mit meiner Familie, die alle zusammen bei Mama zum Osteressen sitzen. Ich fühle einen leichten Stich, nicht dabei zu sein. Sie fehlen mir alle.

Ich treffe mich mit mexikanischen Freunden vom Markt in einer Bar, besuche ein Filmfestival mit Robyn und probiere mich an neuen Rezepten.

Robyn fliegt für eine Woche nach Montreal zu ihrem Papa. Er liegt mittlerweile seit einem Monat im Krankenhaus nach mehreren OPs am Herzen. Ich sage schon seit Wochen, dass sie ihn besuchen sollte, abgesehen davon denke ich mir, kann etwas Freiraum nicht schaden. Ich habe jetzt öfter Momente, in denen mir es hier zu monoton wird und denke an den Frühling in Mannheim und an alles, was ich dort jetzt machen würde; erinnere mich an den letzten Sommer in Montreal und das pulsierende Leben in größeren Städten, wie einfach man Anschluss findet, hier ist es ganz schön ruhig.

Wenn ich allerdings daran denke, hier aufzubrechen, wird mir ganz anders. Ich genieße die Harmonie, die zwischen Robyn und mir herrscht, ihre Positivität, ihren Humor. Die Beziehung zu ihr lehrt mich auf mehreren Ebenen: auch in Beziehung frei zu sein, reden, tiefe Verbundenheit einzugehen und gleichzeitig ich selbst sein zu können, Gefühle auszudrücken, da sein für den anderen; ich bin angetan von ihrer Kreativität, Güte, Rücksichtnahme und Bereitschaft für Veränderung.

Natürlich erlebe ich auch in dieser schwierigen Zeit schöne Tage mit Robyn:

  • wir verbringen ein Wochenende bei ihren Freunden Minty und Mary in The Valley und feiern St Patrick’s Day in einem Irish Pub.

  • Dinner in The Canteen, eines der beliebtesten Restaurants in Dartmouth

  • Spaziergang im Shubie Park mit Olgas Hund Ella, um den wir uns ab und zu kümmern, während Olga in der Stadt zu tun hat

Supermodel Ella

  • Für Besuche zu Olga in Terence Bay bin ich sowieso immer zu haben, denn mit ihr fühle ich mich auf derselben Wellenlänge, sie ist witzig, ehrlich und Unterhaltungen mit ihr sind spannend und anregend.

  • Wir bescheren Robyn’s Mum Janet einen Wellness-Tag mit Mani- und Pediküre, Haarschnitt, Wein und Snacks.

Wellness für Janet

    Ende April: in Deutschland scheint der Sommer ausgebrochen zu sein und endlich kommen wir hier am Atlantik auch in den Genuss von strahlendem Sonnenschein. Ich setze mich zwei Stunden an den Teich Sullivan’s Pond vorm Haus und sinniere über Liebesbeziehungen und wie anders ich sie mittlerweile verstehe: wie schön es sein kann, wenn man sich für jemanden entscheidet, zusammen zu wachsen, sich näher kennenzulernen, sich zu vertrauen, immer Neues am anderen wahrzunehmen. Die völlige Hingabe zu jemandem benötigt Zeit, man geht nicht mehr leichtfertig eine Beziehung ein. Das Gefühl mit jemand anderem teilen zu wollen kannte ich so vorher nicht. Jetzt kommt langsam die Frage auf, wo ich mehr Gefühle investieren will.

    Mit Robyn wird es von Woche zu Woche vielschichtiger und heute morgen hatten wir einen schönen Moment als sie mir Geschichten von früher erzählt – ich kann sie mir genau vorstellen, ein wildes Mädchen muss sie gewesen sein.

    Nach wie vor überkommt mich immer mal wieder Heimweh. Dennoch habe ich Bedenken, dass es mir irgendwann wieder zu eintönig wird, wenn ich zurück nach Deutschland gehe, ich mich schnell wieder nach Abenteuer sehne. Ich habe noch nicht gefunden, was ich suche. Aber ich habe mittlerweile eine Vorstellung davon wie es aussehen kann.

    Mein Visum ist verlängert, allerdings ohne Arbeitsgenehmigung, worüber die Schule, in der ich ausgeholfen hatte, ziemlich frustriert ist. Vertretungslehrer sind rar. Zuhause tut sich auch einiges: mein Bruder Baldi ist wieder Single, aber er steht fester im Leben als je zuvor. Meine Schwester Anne ist frisch verliebt, was für mich die Neuigkeit des Jahres ist. Eine gute Freundin ist schwanger mit dem dritten Kind – einmal die Pille vergessen und zack! so schnell kanns gehen.

    And then it happens
    one day you wake up and you’re in this place
    you’re in this place where everything feels right
    your heart is calm.
    your soul is lit.
    your thoughts are positive.
    your vision is clear.
    you’re at peace, at peace with
    where you’ve been, at peace with
    what you’ve been through and
    at peace with where you’re headed.