Was verliere ich, was gewinne ich? Was für ein Mensch will ich sein? Welche Konsequenzen befürchte ich? Kopf und Bauch führen eine riesen Schlacht, keiner gibt nach: mein Kopf sammelt Argumente und Fakten, wägt ab. Mein Bauch spürt – ich versuche, bewusst in meinen Körper zu fühlen, entstehende Empfindungen bei bestimmten Gedanken zu sortieren. Mache ich mir selbst was vor? Weiß ich, was ich will? Traue ich mich nur nicht? Der Wunsch anzukommen, sich am richtigen Ort fühlen, wird größer.
Voller Genuss ist in der Schwebe nicht möglich. Entscheide aus Liebe statt Angst! Es gibt nicht nur ‚entweder oder‘ sondern mehrere Alternativen.
Mitten im Schnee fühlt sich Sundae am besten.
Nach ewigem Hin und Her im Kopf treffe ich schließlich eine erste Entscheidung: ich will bei Sherry bleiben bis nach ihrer OP, will für sie da sein, wenn sie Hilfe braucht. Und ich weiß, dass sie vorher sehr nervös sein wird. Ob ich dann letztendlich im Herbst schon wieder in Deutschland beginne, ist erstmal dahingestellt. Es ist, als ob ich auf ein Zeichen warte, das mir bei meiner eigentlichen Entscheidung hilft.
Februar. Hör auf dein Gefühl, wenn du keinen Druck verspürst und still bist. Was sind deine Sehnsüchte, was vermisst dein Herz, was erfüllt dich? Wer bist du, was gefällt dir, wie möchtest du leben? Manchmal fühle ich mich mehr als Anhängsel, sie führt, ich ziehe mit, lebe mich selbst nicht aus, ein Teil von mir wird vernachlässigt.
Ich tausche meinen deutschen Führerschein gegen einen von hier, denn beim Ausweisen vereinfacht das vieles und ich werde nun doch noch eine Weile hier sein. In Deutschland läuft sowas immer mit viel Bürokratie ab, hier dagegen gebe ich gefühlt meinen über den Tresen, kurze Zeit später liegt mein kanadischer Führerschein im Briefkasten. Für mich ist dies ein Aha-Moment: die ganze Zeit habe ich selbst meinen Aufenthalt hier nicht so betrachtet, wie er tatsächlich ist – ich lebe hier. Für mich war es immer nur ein Aufschieben meiner Rückkehr. Doch tatsächlich lebe ich hier seit über zwei Jahren.
Point Pleasant Park
Endlich bekommt Sherry ein finales Ergebnis zu all ihren Tests zur Nierenspende. Leider ist die Nachricht jedoch für alle Beteiligten ernüchternd und enttäuschend: Sherry kann keine ihrer beiden Nieren an ihre Cousine Brenda spenden. Die eine ist zu verwoben mit ihren Organen, die andere hat nur eine Arterie, was zum Spenden ungeeignet ist. Warum dieser Test erst ganz am Ende liegt, haben wir uns lange gefragt.
Spaziergang mit Brenda und Simone
März. Ich bin wesentlich ruhiger im Kopf. In einem längeren Gespräch ging es unter anderem darum, dass das hier einfach nicht meinem Lebensstil entspricht und die Winter hier für mich schwierig sind. Ich will diese Gefühlsschwankungen nicht nochmal erleben und nachdem sie ihre Niere nun nicht spenden kann, stellt sich für mich wieder die Frage, wie geht es weiter und soll ich doch länger hier bleiben. Die Reise quer durch Kanada wollen wir nach wie vor machen, Start Mitte Juni. Bis dahin so viel Geld sparen wie möglich und danach hier noch gemeinsam den Rest des Sommers genießen. Im Oktober würde ich dann nach Deutschland fliegen. Aus zeitlicher Ferne ist der Gedanke erträglich, bei zuviel Visualisierung wird es unangenehm. Ich muss bis dahin einen Weg finden, dass mich der Abschied nicht überwältigt, die Perspektive wechseln. Selbst bei unserem Gespräch fiel es mir schwer, die Tränen zurückzuhalten. Der Plan ist nicht schlecht, meine Gefühle zu ihr dagegen vertiefen sich.
Sundae ist weiterhin mein Laufpartner
Zwei meiner Brüder wollen mich im Sommer besuchen kommen. Sherry findet langsam wieder zu alter Form zurück, die ganzen Tests und der mentale Stress haben sie ganz schön mitgenommen. Wir lachen nach wie vor sehr viel zusammen, kuscheln viel, sind liebevoll miteinander, wachsen zusammen. Und doch verhalten wir uns auf gewisse Art vorsichtig und zurückhaltend, die Zukunft ungewiss.
Mitte März. Ich fühle mich wie in einem Science-Fiction-Film. Corona/COVID 19 hat die Welt fest im Griff. Nach und nach schließen alle Länder ihre Grenzen, gehen in den sogenannten Lockdown. Seit gestern sind hier in Nova Scotia alle Parks und Strände zu, verboten zu betreten. Man darf höchstens zu fünft unterwegs sein. Beschränkungen in den Supermärkten, Plexiglas an den Kassen, Leute sind auf Abstand, alle Geschäfte zu. Wer weiß, wer so wie lange überleben kann. Viele Falschmeldungen kursieren. Panik, Lagerkoller, der unbegrenzte Nachrichtenfluss Tag für Tag bereitet mir Kopfschmerzen, von denen ich bald nicht mehr weiß, wann sie eigentlich anfingen. Bisher scheint es nicht so, dass die Welt in naher Zukunft in den Normalzustand zurückkehrt. Nahezu alle Flüge sind gestrichen, man redet davon, dass die Welt nicht mehr die gleiche sein wird. Ich kämpfe mit der Vorstellung, dass viele Menschen auch nach all diesem Wahnsinn verschreckt sein werden, übervorsichtig, auf Distanz, Berührungen seltener.
Unsere ersten Masken
Drei Wochen Lockdown. Wenn ich nicht mit Sherry in der Küche bin, gestaltet sich ein normaler Tag folgendermaßen: Kaffee machen, zurück ins Bett, Neuigkeiten im Netz lesen, aufstehen, frühstücken, wieder ans Handy, mit Freunden und Familie kommunizieren. Mittags mit Sundae spazieren, zurück im Haus. Lesen, chatten, joggen gehen, Abendessen kochen, Sundae nochmal ausführen. Die Abendgestaltung beläuft sich auf fernsehen oder lesen. Meine Laune schwankt, das Wetter ist nicht hilfreich, Temperaturen hier schwanken zwischen 0 und 15°, bleiben meist aber noch einstellig. Wenn ich dann noch die sommerlichen Tage in Deutschland sehe, sinkt die Stimmung. Zu alldem bewege ich mich nicht genug, bin gelangweilt wie nie zuvor. Bis Ende August scheinen alle öffentlichen Veranstaltungen abgesagt, unsere Tour quer durch Kanada wird auch immer unwahrscheinlicher. Fest steht, dieser eintönige Alltag tut mir nicht gut und ich blicke etwas neidisch nach Deutschland. da hätte ich auf jeden Fall wesentlich mehr Gelegenheiten, mich zu beschäftigen und Familie und Freunde zu treffen. Bis nach Sherry’s Geburtstag Mitte Mai will ich definitiv noch bleiben und dann ist wahrscheinlich ziemlich klar, ob unser Trip dieses Jahr realisierbar ist oder nicht. Vielleicht dann zum Halbjahr wieder in Deutschland beginnen? Aber wer weiß, wann überhaupt wieder regelmäßig Flüge gehen. Die Welt ist nicht mehr planbar.
Seit drei Monaten lässt Sherry verschiedene Tests über sich ergehen. Ihre Cousine Brenda leidet unter einer Nierenkrankheit und sucht einen Lebendspender. Ohne zu überlegen hat Sherry angeboten, sich testen zu lassen. Nun ist es kurz vor Weihnachten und alle bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. Die Regeneration nach der OP würde einige Wochen in Anspruch nehmen und ist für den Spender langwieriger als für den Empfänger. Sherry schlägt daher vor, nach Neujahr zwei Wochen in den Süden zu fliegen, bevor sie flachliegt. Natürlich bin ich gleich begeistert.
Sie bucht für uns zwei Wochen All-inclusive in Mexico in der Nähe von Tulum. Eigentlich graut es mir als Backpacker vor solchen Urlauben, aber ich will mich nicht querstellen, immerhin entkommen wir dem Winter für eine Weile und Sherry will entspannen.
Die Anreise läuft unkompliziert, dennoch haben wir einen holprigem Start, da wir ins falsche Hotel gebracht werden. Nach kurzer Recherche stellt sich heraus, dass der Fehler bei unserer Reisekauffrau liegt, die falsch gebucht hat, was ihr unglaublich unangenehm ist, sie sich tausend mal entschuldigt und schon am zweiten Tag sind wir umgebucht. Die Anlage ist top und das Essen gut. Ein typischer Tag hier gestaltet sich wie folgt: Fitness am Morgen (denn nach dem ersten Cocktail wird das schwierig), Cafe und Saft mit Blick aufs Meer, Frühstück, Pool oder Strand, Lunch, gegen fünf Uhr zurück aufs Zimmer und dann raus zum Dinner in einem der Themenrestaurants. Die Animation danach ersparen wir uns meistens.
Dass das nicht meiner Art zu reisen entspricht, war schon vorher klar und ich würde das wahrscheinlich auch kein zweiter Mal machen, nach der ersten Woche werde ich ein wenig hibbelig. Trotzdem genieße ich natürlich die Sonne, das Meer und die Annehmlichkeiten.
Wir zwei sind nach wie vor harmonisch, auch wenn über uns meine nahende Entscheidung dunkel schwebt. Das bringt unterschwellig Spannung, Schwere und Verschlossenheit mit sich, wir ziehen uns beide emotional zurück. Über bestimmte Dinge, die in der Zukunft liegen, reden wir nicht, da die Vorgabe ist und immer war, dass ich zurück gehe – wofür also über Zukunftspläne sprechen? Ganz stoisch legt Sherry eine Engelsgeduld an den Tag, innerlich ist sie nervös, unruhig, angespannt, versucht all das jedoch von mir fern zu halten.
Zurück zum Urlaub: Wir machen immerhin zwei Ausflüge: Ziplining im Park Explorer: für uns beide ist es das erste Mal und wir haben viel Spaß. Der Park ist gut integriert in seine natürliche Umgebung, man fühlt sich ein bisschen wie im Dschungel, fährt außerdem mit einem Amphibien-Auto und schwimmt durch Höhlen mit Fledermäusen, was uns sehr zum Lachen bringt. Wie immer sind wir ein gutes Team. Sowohl zum Park als auch bei unserem anderen Ausflug in den Ort Tulum sind wir mit dem lokalen Collectivo unterwegs, was mir als Langzeitreisende zumindest ein kleines bisschen Genugtuung gibt. Sherry ist wie immer easy und aufgeschlossen für das kleine Abenteuer. In Tulum bummeln wir durch die Straßen, machen Pause für ein Bier und kaufen Souvenirs.
Die Tage verstreichen und wir freunden uns mit anderen Hotelgästen an, darunter ein Paar aus Australien. Die beiden erzählen viel von dem Bränden, welche dort wüten und haben abgesehen davon noch viel Interessantes vom Land zu erzählen. Mit ihnen verabreden wir uns am letzten Abend zum Essen und verbringen ein paar schöne letzte Stunden.
Unsere Mission ist erfolgreich: wir sind braun gebrannt und aufgewärmt. Ich freue mich auf Sundae, die ich schon vor ein paar Tagen angefangen habe zu vermissen, was Sherry zum Schmunzeln bringt.
Im kalten Halifax erwarten uns -8 bis -16 Grad! Als wir am späten Abend heim kommen, müssen wir tatsächlich erst mal Schnee schippen, um dem Parkplatz für das Auto frei zu bekommen – welcome home!
In meiner Abwesenheit hat Sherry weitere Veränderungen im Haus vorgenommen und wir gehen nun gemeinsam viele Projekte an. Seit feststeht, dass sie das Haus vorerst behalten wird, ist die Motivation für Umgestaltung größer. Sherry ist diesbezüglich wie immer sehr einfühlsam, sieht, was ich brauche und ist kompromissbereit. So hat sie mir ein Zimmer im Haus zur Verfügung gestellt, welches ich ganz nach meinen Vorstellungen einrichten und dekorieren darf. Jetzt ist endlich Raum für meine Übungen, Meditation, Entspannung und Rückzug.
VorherNachher
Für den inneren Ausgleich und die Fitness laufe ich zudem regelmäßig, bei schlechtem Wetter ist Sherry’s neues Laufband goldwert. Sundae beschließt eines Tages, mich zu begleiten – das Winterwetter entspricht ganz ihrer Natur – und so wird sie zu meinem neuen Laufpartner.
Shubie Park am See und Point Pleasant Park direkt am Meer
Sherry und ich kommunizieren mehr. Denn wir waren wieder einmal an einem Punkt, an dem sie mir vor Augen hält, wie wenig sie aus mir heraus bekommt, dass ich mehr in Anwesenheit von Freunden rede als mit ihr. „Sollte es nicht so sein, dass dein Partner dein engster Vertrauter ist, dem du alles sagen kannst?“ Sie ist den Tränen nahe und auch ein Stück weit frustriert. In meinen Gesprächen mit ihr komme ich oft einfach nicht über meine Hemmschwelle, frage mich, warum ich die drei Worte nicht aussprechen kann und mir wird klar, ich habe das noch nie zu jemandem gesagt. Dabei möchte ich sie wissen lassen, was ich für sie empfinde. Ich spiele die Situation x-mal im Kopf durch, doch wenn ich sie dann vor mir habe, bin ich wie versteinert. Sie lässt mich wissen, dass sie nach wie vor in Deckung ist und vorsichtig mit ihren Gefühlen, da sie nicht wie andere zuvor davon ausgehen will, dass ich sie liebe. Denn ich hatte in der Vergangenheit schon so meine Sinneswandel bzw. nicht klar kommuniziert, was dem anderen das Herz gebrochen hat. Angestoßen durch ihre erklärte Zurückhaltung fasse ich mir eines Morgens, als wir wie immer noch eine Weile im Bett liegen, dann doch ein Herz und sage ihr die drei Worte. Ihre Reaktion: „This is quite the shocker!“ Wir brechen beide in Lachen aus.
Nachdem unsere Beziehung nun also eine neue Ebene erreicht hat und ich dem Winter hier mit all seinen Facetten mehr Positives abgewinnen kann, spiele ich mit dem Gedanken, meine Beurlaubung doch zu verlängern. Denn wenn ich zurück gehe, stehen die Chancen für unsere Beziehung ziemlich schlecht. Sie hat es so formuliert: zunächst werden wir noch viel in Kontakt sein, doch das ebbt ab. Sie in mein Leben dort zu integrieren, ist wesentlich schwieriger, meine Lebensart dort ganz anders. Wir würden für immer verbunden sein, aber jeder wird dann sein eigenes Leben weiterführen und sie wird irgendwann wieder mit jemanden zusammen sein, muss mit ihrem Leben weitermachen. “Whatever you decide you’ll have a great life.” Doch der Gedanke, mit der Rückkehr gleichzeitig die Beziehung zu beenden, schmerzt. Ich lerne mit ihr mehr über mich, andererseits ist es verlockend, in vertraute Gewässer zurückzukehren. Ich schiebe die bevorstehende Entscheidung vor mir her.
Winter in Halifax
Mit Beverly und ihren Schwestern besuchen wir Sherry’s Bruder Travis und seine Frau Diana. Es amüsiert mich, die drei Schwestern gemeinsam zu erleben, aber der Tag stimmt mich nachdenklich: Beverly’s Schwester Marilyn scheint ein sehr einsames Leben zu führen, mit schlechtem Verhältnis zu ihrer Tochter, quasi keine Freunde. Als ich die Schwestern so reden höre, stelle ich mir mein eigenes Leben in vielen Jahren vor und sehe mich inmitten von vielen Freunden. Mir kommt die Frau vom Markt wieder in den Sinn, die damals zu mir sagte, ich solle mir das gut überlegen, ob ich hier bleibe, denn die Freundschaften werden nicht die gleichen sein. Ich denke an Mamas Leben und wie gut sie sozial vernetzt ist, auch gegeben durch ihr Leben in einem Ort auf dem Dorf.
Aunt Del, Mum Beverly und Aunt Marilyn
Anfang Dezember erreicht mich eine traurige Nachricht aus Frankreich: Helga, die Tante von sehr guten Freunden ist gestorben. Das haut mich ziemlich um. Viele Sommer habe ich an der Atlantikküste verbracht und über die Jahre eine besondere Beziehung zu Helga aufgebaut. Ich wusste, dass sie in den letzten zwei Jahren stark abgebaut hat und dement war, aber die Nachricht ist dennoch schockierend. Helga ist einer der unkonventionellsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Vor zehn Jahren war ich das erste Mal in Cap Ferret in Frankreich und bei Helga, habe sie über die Jahre kennen und lieben gelernt, ihre Eigenarten genossen, ihre Geschichten gerne gehört. Wir hatten eine Phase, in der wir jede Woche telefonierten. Helga war eine ganz besondere Frau, bildhübsch, hoch attraktiv, sensibel, ein Auge für die kleinen Dinge, Liebe zur Poesie, offen, verrückt, meistens von Leichtigkeit getragen mit tiefem Kern. Viele Erinnerungen gehen mir durch den Kopf: gemeinsames Kaffee trinken am Morgen, ihr Einrichtungsstil, Hang zur Farbe weiß und bunt, unzählige Cremes im Bad, ihr graziler Körper, der eine robuste tiefe Stimme hervorbrachte, ihr lautes Lachen, ihre Ehrlichkeit, ich habe viel von mir in ihr gesehen. Selten habe ich mich in einem Ort wohler gefühlt. Nun ist sie nicht mehr da. Heute bin ich sehr traurig.
Erinnerungen mit Helga
Die Weihnachtszeit ist gefüllt mit Einladungen bei Freunden, Schrottwichtel-Party, Tanzabend, Theater und mehr.
Es weihnachtet sehr…
Noch eine Woche bis Weihnachten und nichts ist entschieden. Mein Herz sollte klar sprechen, aber ich bin völlig hin und hergerissen oder sehe einfach nicht klar. Mein Kopf ist überlastet. Wo sehe ich mich in fünf Jahren? Keine Ahnung. Gefühlsmäßig scheint es einfacher, die Beurlaubung um ein Jahr zu verlängern, uns mehr Zeit geben. Nur was mache ich dann in einem Jahr? Wird es dann nicht nur noch schwieriger, hier aufzubrechen? Ich kann meine Situation nicht ausstehen. Meine Schwester sagt, wenn ich mit Sherry dieses Wir-Gefühl habe, sollte das auf jeden Fall Vorrang haben. Man weiß zudem nie, wie es kommt, muss nach dem jetzigen Gefühl entscheiden. Ich sehe keine befriedigende Lösung. Wenn ich bleibe, leidet mein Herz jeden Tag ein kleines bisschen. Wenn ich gehe, ist der Schmerz überwältigend: sie von heute auf morgen nicht mehr in meinem Leben zu haben, ein Stück von mir zurück zu lassen, zu gehen, obwohl es wunderbar zwischen uns läuft. Komme ich zu Hause auf Dauer wieder zurecht? Ist das Leben hier das, was ich will? Lebt wirklich jeder sein eigenes Leben vorrangig in einer Partnerschaft? Ich sehe da nach wie vor mit Freunden und Familie mehr Miteinander. Wie fühlt sich der Gedanke von alleine sein an? Was ist mein Ziel? Was will ich erreichen? Das Gedankenwirrwarr macht mich wahnsinnig. Willst du wieder alleine leben? Mehr Zeit mit Freunden hier und da und dort verbringen? Kannst du dir wirklich vorstellen, in deine alte Wohnung zu ziehen, wieder fest als Lehrer zu arbeiten, gebunden ans Schuljahr, dein Ding machen, deine Urlaube, und so weiter? Wenn du hierbleiben solltest, wie soll dein Leben aussehen? Was ist dir wirklich wichtig? Gibt es eine Variante, mit der du zufrieden leben kannst ohne zu denken, woanders wäre es schöner? Ein Weg, der dich zufrieden zurückblicken lässt. Was genau bringt dich zum weinen, was genau macht dich traurig? Bist du dir wirklich sicher, dass du zurück willst oder hat sich die Welt zu sehr gewandelt und du hältst an etwas fest, was so gar nicht mehr existiert? Empfindest du dein Leben als aufregend? Welcher Lebensart möchtest du nachgehen?
Wie befreie ich mich aus dieser Gedankenspirale?? Wenn der Druck größer wird, muss eine Entscheidung her und das wird spätestens Ende Januar sein.
Vorsätze fürs neue Jahr? Ich will einfach nur mehr Klarheit, einen Weg vor Augen haben, wieder mit vollem Herzen und ruhigem Geist leben… Happy New Year 2020!
Kaum in Deutschland, erlebe ich bereits am Frankfurter Flughafen einen unerwarteten Kulturschock, nachdem ich ungeduldige Deutsche beobachte, die sich unverschämt verhalten und beschweren – da sind Kanadier definitiv entspannter. Doch kaum sehe ich meinen Bruder, der mich hinter den Schiebetüren empfängt, spüre ich eine vertraute Wärme.
In den ersten Tagen erledige ich ein paar organisatorische Dinge in der Stadt. Über einen Freund habe ich verdammt günstig ein Auto gekauft – immerhin bin ich voraussichtlich drei Monate hier und habe mit Sherry zwei Wochen Roadtrip geplant. Außerdem aktiviere ich meine Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Vor meinem Aufbruch vor drei Jahren verbrachte ich hier viel Zeit und war fit wie nie zuvor. Körperlich ausgelastet zu sein, tut gut, beruhigt meinen Geist mit meditativer Wirkung. In Halifax bekomme ich das bisher einfach nicht so hin.
Ich fühle mich ein wenig fremd, vieles ist hier anders: mehr Menschen, mehr Autos, alles enger, hektischer. Ich schaue zum ersten Mal nach drei Jahren auf meinen Arm, wo die Uhr ihren Platz hatte.
Die ersten Wochen füllen sich schnell mit Verabredungen mit Freunden und Familie, dennoch versuche ich Freiraum für Spontanes zu lassen.
Familientreffen bei Mama und Papa, Tag am See mit Schwester+Familie, Nachmittag im Schlosspark mit Schwägerin
Ich halte meinen jüngsten Neffen zum ersten Mal im Arm
Leben mit Rainer und Vera, Weinfest mit Ex-Schülerin und ihren Eltern – die waren mir schon immer sympathisch (und mit denen wollte ich schon immer einen trinken gehen). Wiedersehen mit Kollegen und Freunden:
So viele geliebte Menschen wiederzusehen, macht das Ankommen leichter.
Meine Schwägerin Marina ist hochschwanger, sie wirkt entspannt, wesentlich ausgeglichener, in sich ruhender. Sie und David werden umziehen in die Pfalz. Ich verbringe einen Samstag Nachmittag mit ihr im Johanneshof in Hockenheim.
Mama freut sich riesig, dass ich da bin. Habe sie selten so gesehen, sie zeigt viel Gefühl, sagt mir, wie gut ich aussehe. „Du bist ein goldiges Mädel.“ Sie sieht mich nicht zurück hier als Lehrerin in einer Struktur, die einschränkt. Meine Schwester Veronica wirkt sorgloser und gechillter, arbeitet an sich selbst, ihr Humor ist nach wie vor einzigartig, ihre Kinder entwickeln sich toll, meine Nichte ist schon sechzehn. Meine Schwester Anne und ihr Freund Philipp sind wie Topf und Deckel. Passt! Ich freue mich sehr für sie.
Etwas in mir nagt. Will ich wirklich zurück? Ich fühle mich fremd, einiges hat sich verändert, hier und in mir. Was will ich? Was brauche ich? Wo will ich sein? Was will ich in meinem täglichen Leben?
Ganz langsam gewöhne ich mich wieder an Deutschland. Obwohl ich gut beschäftigt bin, habe ich Momente, in denen ich nicht so ganz weiß, was ich mit mir anfangen soll und denke dann zuviel: Mit jedem Tag länger hier merke ich, dass ich einfach nur genügend Geduld zum Eingewöhnen brauche, dann lebt es sich hier auch wieder zufrieden. Ohne Sherry würde ich ziemlich sicher nächstes Jahr wieder hier einsteigen. Sie will kommenden Sommer quer durch Kanada reisen, da ist es verlockend noch ein Jahr Auszeit dranzuhängen, ansonsten wird das gemeinsame freie Zeitfenster zu eng. Doch das wären ab jetzt noch zwei volle Jahre – wie fülle ich diese sinnvoll und befriedigend? Meine Wohnung, die mein Bruder Baldi nach wie vor bewohnt, fühlt sich nicht mehr wie meine an. Der Garten fehlt, etwas mehr Platz – vielleicht ist es an der Zeit die Wohnung aufzugeben, etwas Neues zu suchen, wenn ich denn zurückkomme? So geht es in meinem Kopf hin und her, mal lauter, mal leiser. Im kommenden Winter steht eine Entscheidung an.
Sherry fehlt mir, ihr Wesen, ihre körperliche Anwesenheit. Nie stand ich einem Partner näher.
Ich besuche Eva und Franzi in Frankfurt; gar nicht so einfach, gemeinsame freie Zeit zu finden. Eva und Christian mit drei Kindern – steht ihr gut. Wenn ich sie mit ihrer Familie so beobachte, kommen mir Erinnerungen an unsere gemeinsame Schulzeit, wir kennen uns seit der fünften Klasse. Nun leben wir das Leben wie damals unsere Eltern, sind mittendrin, keine Kinder mehr. Jetzt findet das Leben statt – mit allem, was dazugehört.
Eva schickt mir regelmäßig Bilder aus ihrem Familienleben
Mein Cousin Peter heiratet Ende August. Ganz traditionell findet vorher ein Polterabend in unserem Heimatdorf statt. Meine andere Freundin Eva begleitet mich. Ich verbringe gerne Zeit mit ihr, uns verbindet mittlerweile einiges und wir sind in derselben Gegend aufgewachsen. Vorher schauen wir bei Mama vorbei, sie ist richtig gut drauf und erzählt zwei Stunden von früher, wie sie und Papa überhaupt dazu kamen, zu adoptieren. 34 Pflegekinder haben sie insgesamt aufgenommen! Fun fact: Eva’s Vater war damals der Richter, der entschied, dass Baldi und ich in der Familie Holder bleiben.
Polterabend
Am nächsten Tag veranstalten mein Bruder Baldi und drei Freunde einen Tag der offenen Tür und Vorträge zu ihrer Arbeit, die sie in Zukunft anbieten möchten: Familienaufstellungen, Stressbewältigung, Umgang mit Emotionen. Baldi so zu sehen, ist wunderschön und beeindruckend, nach all dem, was er durchgemacht hat. Er weiß genau, wovon er spricht, ist authentisch und souverän. Seine Freunde tun ihm gut, stärken ihn.
Mehr Begegnungen, die mir gut tun – dabei alles immer in Bildern festzuhalten, ist schwierig, da ich manchmal wirklich einfach nur genieße und im Moment bin. Ich verbringe mehr Zeit mit Baldi, See mit Nichte Soraya, Nachmittag mit David, Marina, Diana und Meike – die beiden Mädels haben eine neue Wohnung in traumhafter Lage.
Da ich wie immer bei Rainer und Vera wohne, verbringe ich ganz natürlich viel Zeit mit den beiden, Rainer nennt uns drei (Vera, Sohn Paul und mich) ganz liebevoll seine Mitbewohner. Unser Zusammenleben funktioniert reibungslos und die gemeinsamen Gespräche sind bereichernd.
Bild ist geklaut, fand ich aber so schön 🙂
Im Kreise von liebevollen vertrauten Menschen fühle ich mich nach und nach wieder mehr zuhause.
Dann ist es soweit und Sherry landet am 25.August in Frankfurt. Dieses Mal überforderte ich sie nicht gleich am ersten Tag mit Programm und gebe ihr Zeit zum Eingewöhnen. Dennoch steht in der ersten Woche einiges an: Filmfestival, Tage am See, Speyer, Schlossgarten Schwetzingen, Johanneshof, Hochzeit meines Cousins Peter, Marina bringt Levi zur Welt.
Es fühlt sich gut an, sie hier zu haben. Sie ist entspannt und unkompliziert wie immer.
Hochzeit im Schloss Michelfeld
Woche zwei: Wandern in der Pfalz, Zeit mit Familie, Frankfurt mit Eva und Franzi
Main und Altstadt
Markthalle Frankfurt
In Frankfurt schlafen wir bei Eva, Franzi lädt an einem Abend zum Essen bei sich ein. Der Wein fließt und wir reden unter anderem viel über mich und wie es nun weitergeht. Das Englisch der beiden ist gut, was unsere Unterhaltung erleichtert. Denn oft geht einiges bei der Übersetzung verloren oder man wechselt unbemerkt ins Deutsche. Folglich entgehen Sherry Teile der Konversationen und es lastet Druck auf mir, sicherzustellen, dass sie alles mitbekommt.
Als ich später mit Sherry im Bett liege, hallen die Fragen des Abends nach. Meine Unentschlossenheit führt zu Frustration auf beiden Seiten. So geduldig sie ist, braucht natürlich auch sie irgendwann Antworten. Die Frage, wie und ob es gemeinsam weitergehen kann, steht immer im Raum. Der Gedanke, dauerhaft in Kanada und damit entfernt von Familie und Freunden zu leben, ist belastend. Die langen Winter stellen eine zusätzliche Herausforderung dar. Sherry erinnert sich noch genau, wie ich letzten Winter dahing und hat Bedenken. Ich sehe wiederum nicht, dass Sherry sich hier niederlässt. Gleichzeitig beängstigt mich manchmal der Gedanke, mich wieder in Deutschland anzusiedeln und mein unverbindliches Leben hinter mir zu lassen. Doch ich möchte nicht mehr länger in diesem ungewissen Zustand verharren, sehne mich nach Zielgerichtetheit, tieferem Sinn, Gemeinschaft, mehr Sport. In meinem Zwiespalt überkommt mich in den letzten Wochen manchmal das Gefühl, aufzugeben, Sherry gehen zu lassen, da ich keinen zufriedenstellenden Kompromiss finde. Bedeutet meine Unentschlossenheit, dass meine Gefühle nicht klar genug, nicht stark genug sind? In Halifax ist Sherry mein Dreh- und Angelpunkt. Mit meiner Lebensart in Deutschland hätte sich wahrscheinlich nichts zwischen uns entwickelt als Liebespaar. Zwei Welten, jede für sich wunderschön, die ich nicht zu verbinden weiß.
Meine Säulen sind am Wanken, ich finde meine innere Mitte nicht.
Sherry und ich fahren für zwei Wochen Richtung Süden. Ein Fokus dieser Reise ist für mich, Sherry die Vielfalt Europas aufzuzeigen.
Wir starten in Luzern in der Schweiz: Spaziergang durch die Stadt und Gipfel des Pilatus, auch Drachenberg genannt.
Luzern
Berg Pilatus
Nächster Halt: Gardasee. Hier bleiben wir eine ganze Woche, übernachten zuerst im Norden, werden dann aber weiterziehen an die Südseite.
Riva del Garda
Von Riva aus machen wir eine Fahrradtour nach Arco, wo wir einen Aperitif zu uns nehmen und durch die Straßen schlendern.
Arco
Die Fahrradtour muss natürlich mit einem zweiten Aperitif abgerundet werden
Wir verlassen den Norden und halten auf dem Weg zu unserer nächsten Unterkunft in Limone und Salo. Die engen gewundenen Straßen kombiniert mit meinem Fahrstil lösen bei Sherry leichte Nervosität aus.
Limone
Der Aperitivo am Nachmittag ist mittlerweile obligatorisch.
Salo
Beim Stöbern nach Unterkünften um den See sind uns einige Landhäuser aufgefallen. Um unsere Reise möglichst abwechslungsreich zu gestalten, haben wir uns in ein Hotel im kleinen Dorf Moscatello gebucht, ca 20 min südlich des Sees. Der Pool ist mit ein paar Schritten erreichbar und zum Frühstück gibt’s viel Hausgemachtes.
Tagesausflug nach Sirmione und Peschiera:
Ganz in der Nähe gibt es einen Erlebnispark. Sherry bettelt mich seit Tagen an, ob wir hingehen können. Begeistert bin ich nicht von der Idee, da man Stunden mit Anstehen verbringt. Zudem haben wir in unserer Kindheit genug Zeit in solchen Parks verbracht und in dem Alter macht einem das Warten nichts aus. Aber ich will kein Spielverderber sein, es geht oft genug nach meiner Nase, also fahren wir einen Nachmittag ins Gardaland. Wir starten den Tag im Nachbardorf Pozzolengo, dort findet ein traditionelles Dorffest statt. Außerdem bin ich von Rainer und Vera beauftragt, Trüffel zu finden. Die Straßen sind gefüllt mit Ständen, es gibt Aktivitäten für Kinder und wir finden tatsächlich Trüffel! Der wird uns die nächsten Tage das Auto vollstinken, aber das breite Grinsen auf Veras Gesicht hinterher ist es wert. Wir finden zudem heraus, dass später eine Art Weinprobe stattfindet und wollen am Abend wiederkommen.
Erlebnispark Gardaland
Zurück in Pozzolengo
Weintrauben kosten
Nach unserem Weinabend verbringen wir den nächsten Tag in Verona.
Julia’s Balkon aus Romeo und Julia
Sherry’s Bruder Luke ist auch auf dieser Reise dabei und kommt mittlerweile ganz schön rum.
Mit der Abenddämmerung erreichen wir unser Hotel in den Weinbergen und übertrifft alle Erwartungen. Unser Zimmer ist dem Thema Pferde gewidmet – I love it!
Unser Zimmer
Der Kellerbereich
Letzter Halt: Berchtesgaden. Wir machen die anspruchsvolle Grünstein Wanderung am Königssee. Sherry wird physisch an ihre Grenzen getrieben, meistert den Berg aber und erzählt bis heute, dass ich sie fast gekillt hätte.
Auf Empfehlung umrunden wir am Abend den naheliegenden Hintersee – wunderschön idyllisch.
Meine Stimmung ist überwiegend gut. An einem Tag überkommt mich jedoch ein Gefühl von schwindender Hoffnung. Ich habe keine Antworten parat für Sherry, sie weiß nicht, woran sie bei mir ist, ihre Geduld wird nicht unendlich sein, ich ziehe mich innerlich zurück. Wie soll ich das je mit jemanden hinbekommen?Zurück am Rhein bleiben uns noch wenige Tage vor Sherry’s Abreise. Das Zeter Berghaus bietet sich an für einen sonnigen Herbsttag. Dort gibt es außerdem meiner Meinung nach die besten Bratkartoffeln.
Zeter Berghaus
An unserem letzten gemeinsamen Tag fahren wir nach Mußbach. Dort gibt es neuen Wein – wir bleiben länger als geplant und es wird, wie man so schön sagt, feuchtfröhlich!
Ein Halifax und Canada Begeisterter setzt sich zu Sherry
Sherry fliegt zurück nach Halifax. Die letzten Tage hier waren schön, aber auch angespannt, da mit ihrer Abreise die Frage im Raum steht, wie es nun weitergeht.
Lunch im Va Piano, bevor ich Sherry zum Flughafen bringe
Einen Rückflug habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebucht, was aus ihrer Sicht zusätzlich entmutigend ist. All diese Spannungen entladen sich in unserer letzten gemeinsamen Nacht. Ich bin verkopft, zweifelnd und irritiert. Mein distanziertes Verhalten in Deutschland hat auf ihrer Seite Unsicherheit hervorgerufen. Wenn ich mal rede, ist dies für mich ein riesiger Schritt, für sie ist es mühsam. Sie geht mit offenem Geist und Herz an uns heran, auch wenn die Bedingungen schwierig sind. Ich mache nicht wirklich auf. Kommentare meiner Freunde schwirren mir durch den Kopf: „Du musst doch spüren, was du fühlst, auch wenn du es nicht aussprichst.“ „Für dich ist nach wie vor das Gras auf der anderen Seite grüner.“ Ich kann mich zu keiner tiefgreifenden Entscheidung mehr durchringen, welche Ziele habe ich eigentlich?
Hindernisse sind die furchterregenden Dinge, die du dann siehst, wenn du dein Ziel aus den Augen verlierst.
Mit Sherry fühle ich mich zuhause, sie überrascht mich fast täglich, gibt mir das Gefühl bei ihr sicher zu sein. Sie hält unsere Beziehung spannend, ich lerne, wie Reden eine Beziehung bereichert.
Nach Sherry’s Abreise bleiben mir nochmal vier Wochen. Ich treffe ehemalige Schüler, Heidelberger Herbst, Frühstück mit Bernd, Hafenstrand in Mannheim.
Viele Gespräche in den letzten Tagen: „Wenn du es fühlst, brauchst du keine Erklärung, keine Worte.“ „Wenn man es fühlst, ist es einfach klar.“ Wahrscheinlich habe ich das einfach noch nie erlebt, hatte bisher keine gesunde und tiefgehende Beziehung. Ich möchte noch mal mehr Zeit mit Sherry. Glaube, dass ich dieses Mal ziemlich schnell spüre, was ich zu tun habe. Ich bin rastlos, der Gedanke, das Reiseleben erstmal zu beenden, wieder nach Hause zu kehren, ist schwer. Mein Leben in Halifax ist wie eine Art Blase. „Komm doch heim und arbeite erst mal wieder und vielleicht brauchst du dann einfach alle drei bis vier Jahre ein Sabbatjahr.“
Was fühle ich, was spricht mein Herz, was sagt meine innere Stimme?
Wie immer, wenn die Abreise näher rückt, ist verdammt viel los: Mehr Freunde treffen, Brunch bei Mama und danach Babyparty bei Meike und Diana. Es tut richtig gut, inmitten von Familie zu sein. Seit langem habe ich mal wieder das Gefühl voll dabei zu sein.
Mexikaner mit meinem Freund Rainer, über den ich mein Auto gekauft habe. Er lässt mich seinen Porsche fahren, mit 270 km/h ein neuer Rekord für mich.
Außerdem verbringe ich nochmal viel Zeit mit Rainer und Vera: viele gemeinsame leckere Abendessen und offene Gespräche. Vera genießt die zweite Frau im Haus. Ich treffe eine alte Freundin. Dass wir so lange gar keinen Kontakt hatten und uns bei meinen letzten Besuchen auch nicht gesehen haben, hat mich zu lange bedrückt. Unser Wiedersehen ist sehr herzerwärmend.
Ich besuche einen alten Kollegen. Neben Privatem sprechen wir über Schule und er fragt mehrmals nach, ob ich wirklich zurückkommen will. Die Frage bekomme ich oft, für viele sieht es so aus, dass ich auf Dauer weg bin. Der Gedanke hat sich in den letzten Wochen breit gemacht – ich muss das hier nochmal versuchen, die Sehnsucht nach Heimat ist zu groß. Ich habe in der folgenden Woche somit Gespräche an zwei Schulen und je mehr ich mich über die Tage mit dem Gedanken auseinandersetze, desto klarer werde ich, glaube, wieder eine Zielrichtung vor Augen zu haben, die Aussicht auf eine tiefgreifende Aufgabe macht etwas in mir lebendig. Als ich dann eines Abends bei Rainer und Vera von den letzten Entwicklungen erzähle, schaut er mich ganz entgeistert an, da das zum ersten Mal seit langem klare Worte aus meinem Mund sind. Ich verstehe seine Reaktion – mich selbst so reden zu hören, ist ungewohnt.
Der Oktober neigt sich dem Ende, ich reise ab, fliege zurück nach Halifax. Ich freue mich auf Sherry und mehr Zeit mit ihr, unser letzter Abschied war belastet. In diesem Thema tut sich viel bei mir in den letzten Wochen. Frage mich, was das zwischen ihr und mir eigentlich genau ist. Sherry als extrem fürsorgliche Frau erweckt bei mir ein Gefühl von Geborgenheit, welches mir durch den Verlust der Mutter damals genommen wurde. Im Sinne einer Analyse ist dies interessant, aber nicht hilfreich wie es konkret weitergeht. Und woher die Gefühle auch kommen mögen, sie sind da und aktiv. Ich zähle darauf, dass in den nächsten Wochen vieles klarer sein wird, ich spüren kann, wo es mich hinzieht, sich der Nebel lichtet.
Du solltest mit dem Suchen aufhören und mit dem Finden anfangen. – Rainer (aka Papa)
Die Nacht vor meinem Heimflug früh am Morgen verbringe ich am Flughafen in Cancún. Der Versuch, in einer Ecke auf dem kalten Fliesenboden zu schlafen, scheitert kläglich. Putzpersonal ist aktiv, der Boden hart und kalt. Als ich mich auf der Toilette frischmache, plaudere ich mit der mexikanischen Putzfrau, die nach ein paar Minuten ganz verstohlen ein Bier aus einem ihrer Putzeimer zieht und mir entgegenstreckt: „Wenn jemand fragt, das hast du nicht von mir.“ Sie ist so goldig, dass ich das Bier nicht ausschlagen kann.
Ankunft in Halifax: Als ich mit meinem Rucksack durch die Schiebetür trete und Sherry erblickte, entspannt sich etwas in mir. Der Überfall in San José ging mir tagelang nach. Wir lachen uns an, fallen uns in die Arme und sie fährt uns nach Hause. Nach einem freien Sonntag stehen wir montags wieder gemeinsam in der Küche und am darauffolgenden Samstag bin ich schon wieder zurück auf dem Markt. Alle freuen sich mich wiederzusehen, Mein Umsatz ist wie gewohnt, ich biete jetzt auch Thai Curry an.
Der Sommer bahnt sich an und die Stadt wird lebendig. Ich bin im richtigen Moment wieder da.
Die Bar Kismet, wo wir vor einem Jahr zum ersten Mal gemeinsam waren, ist eines unserer ersten Ziele.
Sherry genießt ein paar Austern
John (ursprünglich aus England) und ich hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander, kaum bin ich zurück, haben wir ein Date für einen Abend zu viert.
John hat wenige Tage nach meiner Rückkehr Geburtstag. Wir treffen ihn und Cyril auf der Terrasse der Bar Good Robot und ziehen dann weiter in das Pub Chain Yard, wo zwei Freundinnen von den Jungs dazustoßen.
Schon in der zweiten Woche kehrt mein Heimweh zurück – das ging schneller als gedacht. Sherry schlägt in ihrer Fürsorge vor, Ende August gemeinsam nach Deutschland zu fliegen. Das bedeutet noch zwei Monate warten, was mir in meiner Ungeduld lange vorkommt.
Sherry’s Vater will sich spontan mit uns auf einen Kaffee treffen. Sherry findet es seltsam, dass er ausdrücklich uns beide sehen will. Wir ahnen, dass er was zu sagen hat. Wir verabreden uns also im Starbucks um die Ecke und nach einer kurzen Einleitung erklärt er uns, dass er Sherry und ihren Brüdern jetzt Geld vermachen will und nicht erst, wenn er stirbt. Sie sollen ihr Leben jetzt genießen und nicht mehr so hart arbeiten müssen. So wie Sherry haben auch ihre Brüder ihr eigenes Unternehmen und stetig dafür gearbeitet. Sherry ist sprachlos, versucht ihre Fassung zu wahren, ich bin dabei, um auch sicherzustellen, dass alles verstanden ist. Für sie bedeutet das konkret, keine Sorgen mehr um das Haus und wie sie die hohe Rate jeden Monat bezahlen soll. Bis an ihr Lebensende braucht sie sich nie wieder ernsthaft Sorgen um Geld zu machen, der Druck ist weg. Tagelang kann sie es nicht glauben – verständlicherweise. Nächsten Monat soll das Ganze schon starten. Was für ein Wandel – sie nennt es Game Changer.
Endlich ist es richtig warm hier. Cafés, Bars und Restaurants haben ihre Holzterrassen auf den Gehwegen aufgestellt. Die Sommer hier sind kurz und werden daher um so mehr geschätzt. Die Optionen sind jetzt endlos: Tage am Meer, Sonnen, Baden, Festivals, road trips, Wanderungen, Wochenenden am See. Gereist wird dementsprechend hauptsächlich in der kalten Jahreszeit. Wir sind gut beschäftigt.
Spontaner Besuch bei Scott und Todd.
Wir versuchen die Arbeitstage früh zu beginnen und verbringen viele Nachmittage am Strand. Da Sherry etwas mehr Arbeit hat als ich, sind Sundae und ich immer gemeinsam unterwegs, ich verbringe viel Zeit im Park mit ihr, erziehe sie und so wächst sie mir mehr und mehr ans Herz.
Scott und Todd laden zu einer Gartenparty bei sich ein, im Winter sind die beiden wie vom Erdboden verschluckt.
In Pictou findet jährlich das Lobster Festival statt. Cyril ist dort aufgewachsen, seine komplette Familie lebt nach wie vor dort sowie einige seiner Schulfreunde. Somit fährt er regelmäßig in die Heimat. Er und John schlagen vor, mit ihnen das Festival Wochenende dort zu verbringen, wir sagen zu und dürfen sogar im Gästezimmer von Cyril’s Mutter nächtigen. Ein bisschen erinnert mich die Veranstaltung an ein großes Dorffest mit Kirmes, Umzug, Bierzelt und Musik am Abend.
Mitte Juli hat Beverly, Sherry’s Mutter, Geburtstag. Wir buchen drei Nächte in einem Cottage in Cambridge, inmitten verschiedener Weingüter. Die Gegend erinnert mich nach wie vor an das Pfälzer Weinland. Beverly sträubt sich zunächst bei dem Gedanken, drei Tage aus ihrer Routine geholt zu werden. Wochen vorher bereiten wir sie also auf den Trip vor, sie schwankt immer wieder hin und her, lässt sich letztendlich jedoch durch unsere Redekunst und die Bilder des schönen Cottage überzeugen. Unsere Unterkunft ist knappe zwei Stunden von Halifax entfernt. Auf dem Hinweg halten wir im Weingut Luckett zum Lunch.
Unser Cottage liegt direkt am See
Wir verbringen drei entspannte Tage im Haus am See. Tris, eine enge Freundin von Sherry, kommt uns an einem Nachmittag besuchen. Wir baden, testen das Kajak, ich fange beim Tauchen eine Wasserschildkröte und helfe Beverly bei der fragwürdigen und etwas lächerlichen Aktion, die Pfotennägel von Daisy, ihrem Hund zu lackieren. Beverly erzählt aus ihrem Leben, ich höre gerne zu, wenn sie Geschichten aus ihrem Leben teilt. Die Ruhe hier tut gut, es ist unglaublich friedlich.
An ihrem Geburtstag selbst gehen wir im Weingut Gaspereau essen und sie wird überrascht von der Familie, die bereits am Tisch auf uns wartet. Sie ist sehr gerührt.
Am selben Abend sitzen Sherry und ich spät bei klarem Himmel und romantischer Lichterkette im Freien.
Unsere Beziehung ist nach wie vor bereichernd, humorvoll und spannend. Sherry drückt aus, dass sie es sehr schwierig findet mit mir zu reden, da ich so verschlossen bin und sie keine Ahnung hat, wo sie steht. Sie sagt, ich muss mich öffnen, wenn ich eine gute Beziehung haben möchte. Meine Freunde würden ihr vielleicht widersprechen, da es mir mit ihnen leichter fällt, über alles zu reden. Die Barriere scheint groß, meine Gefühle zu verbalisieren.
Pride Halifax
Früher als angedacht ist es Ende Juli soweit: ich sitze am Flughafen und warte auf meinen Flug nach Frankfurt. Sherry kommt in drei Wochen nach und ich habe bis dahin etwas Zeit, um Freunde und Familie zu treffen. Ich sollte voller Vorfreude sein – Sommer in Deutschland – das habe ich doch so lange vermisst! Was ich jedoch in diesem Moment fühle, ist Traurigkeit. Es ist seltsam, Sherry nicht bei mir zu haben. Klar ist es schön, in die Heimat zu kommen, aber unterschwellig ist das Gefühl da, dass ich weder in Halifax noch in Mannheim vollkommen da bin. Tatsächlich lebe ich in Halifax mit Sherry und dem Hund Sundae, habe endlich mehr Kontakte, ihre Eltern haben mich ins Herz geschlossen. Beverly nennt mich liebevoll ihre andere Tochter. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich wirklich bereit bin, wieder in das hektischere Leben einzutauchen, habe mich an den Freiraum gewöhnt, an die entspanntere Gangart, die Nähe zum Meer. Schon lange ist klar, dass ich eine für mich sinnvollere Aufgabe brauche, wonach ich in Halifax bisher nicht gesucht habe. Sherry bedeutet mir mehr denn je. In den letzten Wochen ertappe ich mich dabei, wie ich sie ansehe und mir im Kopf die Worte sage, die ich nicht über die Lippen bringe. Sollte ich nächstes Jahr wirklich mein Leben in Deutschland wieder aufgreifen, bedeutet das viel Zeit getrennt, der Gedanke zerreißt mich innerlich. Ich habe die Befürchtung, dass ich immer hin und hergerissen sein werde. Meine Zeit weg von zu Hause war zu lang um einfach wieder einzusteigen, in Halifax habe ich ein zweites Zuhause gefunden.Vielleicht bin ich gerade auch einfach zu müde und zu dramatisch. Keine Ahnung, was in sechs Monaten sein wird. Sherry will nächsten Sommer quer durch Kanada fahren. Da ist es verlockend noch ein freies Jahr dranzuhängen.
Ich freue mich auf meine Geschwister, meine Eltern, meine Freunde.
Sherry’s Vater Fred überwintert seit einigen Jahren immer in Florida, um dem kalten Wetter in Nova Scotia zu entkommen. Sherry und er haben ein gutes Verhältnis und die beiden stehen in regem Kontakt: wenn sie sich nicht gerade bei der Arbeit über den Weg laufen (die Küche befindet sich im selben Gebäude wie seine Büroräume und die ihres Bruders direkt am Binnenkanal), telefonieren sie regelmäßig. Außerdem versorgt sie ihn mit Essen, das er immer mit leuchtenden Augen entgegen nimmt.
Nachdem er von unseren Plänen hört, in die Sonne zu fliegen, schlägt er vor, ihn in Florida zu besuchen. Bei dieser Einladung verwerfen wir ohne überlegen fürs erste unsere vorherigen Ideen, innerhalb einer Woche sind unsere Tickets gebucht und wir verabschieden uns für acht Tage vom Winter.
Orlando ist nicht der näheste Flughafen, doch Fred besteht darauf, dass wir direkt fliegen und holt uns in seinem Bentley vom Flughafen ab. Ca zwei Stunden dauert die Fahrt nach Jupiter. Er wohnt hier in einer sogenannten gated community – eine bewachte Anlage mit mehreren Golfplätzen. Alles sehr nobel, weitläufig, überall schicke Autos, Golfcarts. Sein Haus liegt direkt am Binnenkanal (intercostal).
Mir verschlägt es die Sprache, als er uns im Haus herum führt. Marmorböden, riesiger Wohnbereich, alles verglast, die Fenster sind kugelsicher (das wurde ihm vom Fensterbauer vorgeführt) und halten auch einem Hurricane stand – ein riesiger Pool mit knapp siebzehn Metern, Yamaha Klavier im Wohnbereich (man wollte mal Klavier spielen lernen). Es gibt ein Gästehaus, das wir ganz für uns haben könnten, doch wir wählen das Gästezimmer im Haupthaus, da die Klima hier nicht so kalt wird. Die Dimension des Wohlstands übersteigt meine Vorstellungskraft.
Da Fred meist mit dem Auto anreist, haben wir sein Cabrio aus Halifax für uns während wir hier sind. Ausgestattet mit Empfehlungen für die Gegend von ihm und Sherry’s Schwägerin starten wir in die Woche:
Montag: Fred zeigt uns seinen bevorzugten Gourmet – Supermarkt mit Frischetheke für alles: von Vorspeisen über unzählige Hauptgerichte und Beilagen bis hin zur Kuchentheke werden keine Wünsche offen gelassen – gekocht wird dementsprechend kaum und die noble Küche zuhause wird quasi nie genutzt.
Dienstag: wir suchen einen Strand in der Nähe auf und entdecken auf dem Rückweg eine einladende Beachbar: Guanabanas
Mittwoch: Miami – auf dem Weg dorthin bin ich ziemlich launisch. Einer dieser Tage, in denen ich in dieser Stimmung aufwache (und das trotz Sonne und Strand). Ich bekomme meine Laune allerdings in den Griff, rechtzeitig bevor wir in Miami ankommen. Bei meiner Recherche am Abend vorher habe ich drei interessante Stadtviertel rausgesucht und mit dem Auto sparen wir Zeit, um von A nach B zu gelangen. Wir starten am South Park Beach.
Frühstück an einer Sandwich Bar, die eigentlich nur gut sein kann bei dem Andrang. Unser Sandwich enttäuscht nicht, gestärkt geht’s weiter.
Bayside Spaziergang. Dort stolpern wir über einen Harley Store, und das ausnahmsweise ganz ohne dass Sherry danach gesucht hätte.
Ein ungewöhnliches öffentliches Transportmittel fällt mir hier auf: der Metromover: völlig kostenlos, fast wie eine Art Schwebebahn über den Straßen, alles automatisiert, also kein Fahrer. Gefällt mir.
Wynwood präsentiert sich bunt und supercool mit leuchtenden Graffiti an den Wänden, schicke Bars, stylish, erinnert mich an ein Viertel in New York. Hier legen wir eine Pause für ein Bier ein.
Little Havana: wir finden die Straße mit all den kubanischen Restaurants und Bars, wählen eine Taco Bar und verspeisen mega leckere Tacos und einen Burrito. Der Tag neigt sich dem Ende.
Auf dem Heimweg fährt Sherry über Hollywood. Dort hat sie mit Anfang zwanzig mal mit ihrem ersten Mann gelebt. Muss ein seltsames Gefühl für sie gewesen sein nach all den Jahren wieder hier durch zu fahren.
Donnerstag: Tag am Pool und abends führt uns Fred zum Essen aus im Golfclub. Jeder scheint ihn hier zu kennen. „Good evening, Mister Smithers. How are you, Mr Smithers?“
Freitag: wir checken den Secondhand Store aus, von dem Fred erzählt hat. Hier landen überwiegend Designerstücke – Kleider, die wir uns zum Originalpreis niemals leisten könnten, hier aber zu echten Schnäppchen angeboten werden. Die beiden Damen, die hier arbeiten, erinnern mich an die Verkäuferinnen im Film ‚Pretty Woman‘ – nur mit dem Unterschied, dass sie sehr nett und geschwätzig sind. Sherry’s Vater kennen sie, der kommt hier oft einkaufen. Er scheint sehr angesehen zu sein und ein Headturner (Hingucker) für die Frauen. Shoppen wollte ich ja eigentlich gar nicht, aber das ist doch zu verlockend hier. Danach geht’s zu einem Antikmöbelhaus ‚True Treasures‘ – hier richtet sich also die reiche Welt ein.
Anschließend das Breakers Hotel am Palm Beach. Sowas habe ich noch nicht gesehen – ein Hotel wie ein Schloss. Faszinierend und auf gewisse Art verstörend zugleich – zu viel Geld an einem Ort. Wir laufen durch die Gemächer, die für Besucher begehbar sind und fahren dann entlang am Strand, vorbei an all den Villen. Am Ende der Straße befindet sich Trump’s Anwesen, doch wir biegen vorher rechts ab, durch eine schicki-micki Einkaufsstraße und zurück Richtung Jupiter. Kohle wohin man nur blickt.
Breakers Hotel
Wir halten fürs Foto an diesem kleinen Café
Samstag: eine Runde paddleboarding, nochmal die Bar Guanabanas und zum Abschluss der Restauration Hardware Store – ein riesiges Möbelhaus – bei den Preisen schlackern einem allerdings die Ohren. Im Dachgeschoss befindet sich ein Restaurant, wo wir uns für eine Kleinigkeit (das Günstigste auf der Karte) niederlassen und people watching betreiben.
Sonntag: wir treffen eine Bekannte von Sherry und deren zwei Schwestern an einem Strand weiter nördlich: Jensen Beach auf Hutchington Island. Judy’s Schwester hat eine kleine Wohnung hier für den Winter – es gibt also auch weniger noble Modelle als Fred – und beide Schwestern sind zu Besuch auf Urlaub. Auf der Terrasse eines angesagten Restaurant an einem der vielen Bootshäfen lassen wir den Tag ausklingen.
Am letzten Abend führt uns Fred nochmal aus zu seinem Lieblingsitaliener. Er erzählt viel von früher: wie er als junger Mann für einen Dollar die Stunde arbeitete, die Familie durchbrachte und nach und nach immer erfolgreicher wurde, neue berufliche Herausforderungen annahm. Ich hake nach, wie er eigentlich Sherry’s Mama kennengelernt hat. Dabei kommen für sie bisher unbekannte Details zum Vorschein. Ich freue mich für sie, denn aus eigener Erfahrung weiß ich wie kostbar solche Geschichten sind.
Aufgetankt mit Sommersonne machen wir uns früh am nächsten Morgen auf zum Flughafen.
Vom ersten Moment an hier zurück tue ich mich richtig schwer. Viel Unmut, Traurigkeit, Zweifel, Heimweh und null Bock auf Küche.
Normalerweise zieht mich Sport immer aus der schlechten Laune, aber körperlich verausgaben, so wie ich das gerne hätte, funktioniert bei dem Wetter einfach nicht und zwei Mal die Woche Fitnessstudio reicht mir nicht. Als dann durch das viele Stehen noch Rückenschmerzen hinzukommen, ist meine Stimmung endgültig bei null. Sherry gibt ihr Bestes um mich aufzumuntern, was ihr auch immer wieder gelingt. Ich falle jedoch regelmäßig zurück in miese Stimmung. Eigentlich hatte sie gehofft, dass die Zeit in Deutschland mein Heimweh stillt, aber genau das Gegenteil ist der Fall.
Ich sehe nicht, wie wir unsere zwei Welten vereinen können, bin einsam, sie ist hier verwurzelt, ihre Arbeitswelt ist und bleibt hier und sie hat sich etwas aufgebaut, was man nicht so einfach aufgibt. Wahrscheinlich wäre sie sogar offen dafür, nach Deutschland zu kommen, aber ich bin mir sicher, dass die Heimat recht schnell rufen würde, so wie ich das gerade erlebe.
Wir müssen reden, haben viele Themen bisher nicht berührt. Wahrscheinlich, da wir beide wissen, dass es keine befriedigende Lösung gibt. Gegeben durch dieses persönliche Dilemma leidet meine Stimmung enorm, es schwingt immer etwas Trauriges mit und ich gehe mit schwerem Herzen durch die kommenden Wochen.
Nichtsdestotrotz tut Sherry mir gut, wächst mir immer mehr ans Herz, wir erleben viele schöne Momente gemeinsam. Ich mag ihre Sicht auf die Dinge, sie ist immer positiv, lässt sich nie entmutigen und findet für alles eine Lösung. Das Erlebnis der Beziehung mit Sherry ist neu. Ich fühle mich in meinem Sein durch sie nicht eingeschränkt, wir geben ein gutes Team ab, ergänzen uns, sind beide leicht im Umgang und flexibel.
An einem Samstag treffen wir uns mit Sherry’s Freunden und gehen Axt-werfen – eine spaßige Angelegenheit.
Nachdem Sherry entgültig entschieden hat, ihr Haus nicht zu verkaufen, nehmen wir uns als erstes ihr dunkelbraunes Bett zum Projekt für Veränderung: abschmirgeln, streichen und dann bekommt das gute Stück einen antiken Touch.
Dabei merke ich, wie es mir fehlt meine eigenen vier Wände einzurichten. Seit dreißig Monaten stelle ich mich auf andere Menschen und ihr Zuhause ein, schlafe in Hostels, bei Freunden, in Nachtbussen, eine Parkbank und ein Einmannzelt zu zweit war auch schon dabei. Ich weiß zwar noch nicht wirklich, wie es von hier aus weitergehen soll, aber der Gedanke, zurück nach Mannheim zu gehen, ist gerade verlockend – mich neu einrichten, eventuell sogar ein neuer Arbeitsplatz. Gleichzeitig habe ich Bammel vor der Routine nach all der Freiheit.
Eine schöne Abwechslung hier ist zur Zeit unsere gemeinsame Freundin Hatfield (eigentlich heißt sie auch Sherry, aber ich hab ihren Nachnamen zum Spitznamen gemacht). Nachdem sie und ihr Mann sich letztes Jahr getrennt haben, bot Sherry ihr an, bei uns zu wohnen bis sie im Februar in ihre neue Wohnung kann. Unsagbar dankbar nimmt sie das Angebot an und zieht kurz vor unserer Abreise nach Deutschland mit ein paar Taschen ein und hütet während unserer Abwesenheit Haus und Hunde. Jetzt zurück verbringen wir ein paar gemeinsame Wochen zu dritt und verstehen uns verdammt gut.
Wie jedes Jahr steht mein Geburtstag am 8.Februar an und präsentiert sich voller Überraschungen: Ich wusste ja, dass Sherry was im Schilde führt und am Abend vorher eröffnet sie mir, dass sie einen Kitesurf-Tag mit Privatlehrer für mich organisiert hat. Ich starre sie ungläubig an – bei dem Wetter? Null Grad und Regen. Sie: „Es gibt doch Neoprenthermoanzüge und du wolltest das doch schon immer hier ausprobieren nach deiner Erfahrung in Brasilien, bist doch gerne draußen.“ Meine Augenbraue zieht sich misstrauisch nach oben, doch je länger sie spricht, desto überzeugender wird sie. Sie zieht alle Register, ich traue mich nicht, mich zu beschweren über das Geschenk und beginne, mich geistig auf den nächsten Tag vorzubereiten. Ich packe also am Morgen meine Tasche, sie macht Geburtstagsfrühstück – veganen French Toast.
Als wir das Haus verlassen, zieht sie ganz demonstrativ ihre Regenjacke an – braucht sie, wenn sie Bilder von mir macht. Hmm… Jaja, schon klar, nicht witzig. Das Wetter ist garstig! Wir halten am Coffeeshop, um etwas Warmes dabei zu haben. Dann zückt sie einen Umschlag und meint, sie hätte vergessen, mir noch was zu geben. Ich öffne verwundert und finde einen Gutschein für das Wellness Spa nebenan. Mehrere Stunden Wellness – von wegen Kitesurfen. Sie lacht, ich schüttel sie – und ich hab ihr den Quatsch auch noch abgekauft! Sie muss jetzt in die Küche, Catering vorbereiten und holt mich später ab. Mit einem Kuss verabschiede ich mich und steige kopfschüttelnd aus.
Für den Abend hat sie einen Tisch im Restaurant Five Fishermen reserviert. Als ich frage, wie schick wir denn ausgehen und ob ich mein gewohntes Outfit tragen soll (nach wie vor habe ich hier nicht viele Klamotten und Schickes schon gar nicht), nimmt sie mich bei der Hand und führt mich ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt ein komplett neues Outfit, dass sie mir besorgt hat, was auch noch wie angegossen passt. Wir erleben Service vom feinsten, mit Prosecco aufs Haus, veganer Speisekarte, vorzügliches Essen, bekommen zwei Rosen, Dessert und Geburtstagskarte.
Am Samstag darauf ist Markt wie immer und ich gehe davon aus, dass wir danach Pizza essen gehen wie immer. Wir müssen nur kurz nach Hause wegen des Catering Jobs – das Essen wird zu Hause abgeholt, sagt sie. Ich gehe die Stufen zur Haustür voraus, schließe auf und bleibe verdutzt in der Türe stehen: überall Luftballons! Dann höre ich jemanden sagen: „Happy Birthday!“ und sehe Sherry’s Bruder Travis und Frau Diane, Cousine Brenda und Frau Simone, Hatfield – alle stehen sie da und grinsen mich an, alles ist dekoriert. Hat Sherry doch echt eine Party für mich organisiert und ich hatte keinen Schimmer!
Sherry’s Mutter Beverly kommt mit Mike, Freunde Scott und Todd, es gibt eine vegane Geburtstagstorte. In meinem Leben war ich noch selten so baff und noch nie hat jemand so etwas für mich gemacht. Alle haben Geschenke dabei und sind super herzig. Ich bin sehr gerührt. Die letzten Gäste bleiben bis spät in den Abend.
Nach der Party verbringen wir den Sonntag sehr gemütlich zuhause. Ich bin irgendwie immer noch verblüfft, wie sie das alles gemacht hat und sich vor allem so ins Zeug gelegt hat, um mir diese Freude zu bereiten.
Am Donnerstag drauf steht Valentinstag an. Das war ja noch nie mein Fall, wird bei uns im Deutschland eh nicht so wichtig genommen und auch nicht so gehypt wie hier in Nordamerika. Für meine Familie ist es zudem einfach Mamas Geburtstag. Sherry ist ganz erstaunt, dass ich noch nie einen Valentinstag mit allem Drum und Dran erlebt habe und meint deshalb erst, ok dann machen wir nichts – „Let’s do it the German way“.
Letztendlich einigen wir uns allerdings, schick essen zu gehen. Ich fühle mich außerdem dann doch herausgefordert, ihr eine Aufmerksamkeit zu machen. Also besorge ich ihr eine Kleinigkeit und verstecke am Abend vorher Herzen in ihren Stiefeln, in der Sichtblende im Auto, dann in der Küche und habe jedes Mal einen Heidenspaß dabei, wenn sie welche entdeckt. Sie überrascht mich mittags mit Blumen.
Für den Abend haben wir eine Reservierung im Ostrich Club, ein relativ neues Restaurant und Bar hier im Hydrostone-Viertel. Als wir uns fertig machen, hat sie das Bett dekoriert mit Rosenblättern und eine Tüte von LaSensa steht da für mich – feine Unterwäsche. Ich wähle ein Stück, ziehe mich an, Sherry trägt zum ersten Mal seit Jahren ein Kleid. Wir lassen uns ein Fünf-Gänge-Menü kredenzen, heute spielt Geld keine Rolle.
Ostrich Club: food and wine pairing
Zurück zu meinem Gemüt: Abgesehen von den Hoch-Momenten ist meine Stimmung schlechter denn je, geht fast schon ins Depressive. Ich wache oft mit schwerem Herzen aus, es fehlt ein tieferer Sinn in meiner Arbeit, nach wie vor das Heimweh und die Leere, die entstanden ist, da ich mich nach all den Menschen sehne, die mir vertraut sind, die mich zum Lachen bringen, mit denen ich mich jederzeit treffen konnte. Mitte März ist die Sonne zwar schon wieder stärker, aber in der Kälte weicht der Schnee nicht so schnell.
Erstes Sonnen Mitte März auf dem Deck
Ich bin nicht ausgelastet, schlafe schlecht. Eigentlich also eine glasklare Sache: ab nach Hause. Mein Bruder Baldi würde fragen, auf was wartest du noch? Sogar Sherry sagt, sie kann sich das nicht mehr mit ansehen, ich soll doch einen Flug nach Hause buchen. Klar hätte sie mich lieber bei sich, aber „du musst tun, was für dich gut ist!“
Mit ihr ist es mittlerweile so eng geworden, dass ich nicht einfach meine Sachen packen kann und gehen. Sie hat sich getraut und die drei Worte gesagt. Ich kann es nach wie vor nicht, hab generell aus verschiedenen Gründen meine Schwierigkeiten, über Gefühle zu sprechen. Zudem bin mir nicht sicher, was ich genau fühle oder ob ich mich einfach nicht traue, dieses Zugeständnis zu machen.
In der Tiefe unseres Herzens wissen wir immer die Antwort auf die wichtigen Fragen. Doch haben wir den Mut, sie zu hören?
Ganz klar empfinde ich Liebe für sie, aber diese Worte so auszusprechen, ist nochmal ne andere Nummer. Wir beide wollen die Beziehung nicht beenden, doch ich kann das auf Dauer so nicht, will inmitten von Familie und Freunden leben. Sherry versteht und hat wie immer Lösungsvorschläge. Sie ist sich bewusst, dass ich Freiraum brauche, schlägt vor, mich erst mal alle paar Monate zu besuchen. Meine Laune ist auf jeden Fall so nicht mehr lange tragbar, weder für sie, noch für mich oder uns beide. Ich kann mich so nicht ausstehen, kenne mich so gar nicht und bin so auch eigentlich nicht. Inzwischen ist für mich zumindest klar benennbar, was ich brauche, um fröhlich und ausgeglichen zu sein. Die Tage in Halifax scheinen gezählt, jetzt geht es darum, wann ich genau aufbreche, ob ich erst ein bisschen reisen gehe, bevor ich den Sommer zu Hause verbringe. Immerhin bin ich noch über ein Jahr freigestellt. Ein paar Monate reisen sollte ich einplanen um die Zeit voll auszukosten. Sherry ist offen dafür sich anzupassen, was auch immer ich entscheide.
An einem Morgen im März
Wir überlegen, gemeinsam eine Woche ins Warme zu reisen, denn der Winter kann sich hier bis in den Mai ausdehnen. Ich würde von dort aus, wahrscheinlich irgendwo in Mittelamerika, weiterziehen. Da meldet sich ihr Papa…