Was verliere ich, was gewinne ich? Was für ein Mensch will ich sein? Welche Konsequenzen befürchte ich? Kopf und Bauch führen eine riesen Schlacht, keiner gibt nach: mein Kopf sammelt Argumente und Fakten, wägt ab. Mein Bauch spürt – ich versuche, bewusst in meinen Körper zu fühlen, entstehende Empfindungen bei bestimmten Gedanken zu sortieren. Mache ich mir selbst was vor? Weiß ich, was ich will? Traue ich mich nur nicht? Der Wunsch anzukommen, sich am richtigen Ort fühlen, wird größer.
Voller Genuss ist in der Schwebe nicht möglich. Entscheide aus Liebe statt Angst! Es gibt nicht nur ‚entweder oder‘ sondern mehrere Alternativen.
Mitten im Schnee fühlt sich Sundae am besten.
Nach ewigem Hin und Her im Kopf treffe ich schließlich eine erste Entscheidung: ich will bei Sherry bleiben bis nach ihrer OP, will für sie da sein, wenn sie Hilfe braucht. Und ich weiß, dass sie vorher sehr nervös sein wird. Ob ich dann letztendlich im Herbst schon wieder in Deutschland beginne, ist erstmal dahingestellt. Es ist, als ob ich auf ein Zeichen warte, das mir bei meiner eigentlichen Entscheidung hilft.
Februar. Hör auf dein Gefühl, wenn du keinen Druck verspürst und still bist. Was sind deine Sehnsüchte, was vermisst dein Herz, was erfüllt dich? Wer bist du, was gefällt dir, wie möchtest du leben? Manchmal fühle ich mich mehr als Anhängsel, sie führt, ich ziehe mit, lebe mich selbst nicht aus, ein Teil von mir wird vernachlässigt.
Ich tausche meinen deutschen Führerschein gegen einen von hier, denn beim Ausweisen vereinfacht das vieles und ich werde nun doch noch eine Weile hier sein. In Deutschland läuft sowas immer mit viel Bürokratie ab, hier dagegen gebe ich gefühlt meinen über den Tresen, kurze Zeit später liegt mein kanadischer Führerschein im Briefkasten. Für mich ist dies ein Aha-Moment: die ganze Zeit habe ich selbst meinen Aufenthalt hier nicht so betrachtet, wie er tatsächlich ist – ich lebe hier. Für mich war es immer nur ein Aufschieben meiner Rückkehr. Doch tatsächlich lebe ich hier seit über zwei Jahren.
Point Pleasant Park
Endlich bekommt Sherry ein finales Ergebnis zu all ihren Tests zur Nierenspende. Leider ist die Nachricht jedoch für alle Beteiligten ernüchternd und enttäuschend: Sherry kann keine ihrer beiden Nieren an ihre Cousine Brenda spenden. Die eine ist zu verwoben mit ihren Organen, die andere hat nur eine Arterie, was zum Spenden ungeeignet ist. Warum dieser Test erst ganz am Ende liegt, haben wir uns lange gefragt.
Spaziergang mit Brenda und Simone
März. Ich bin wesentlich ruhiger im Kopf. In einem längeren Gespräch ging es unter anderem darum, dass das hier einfach nicht meinem Lebensstil entspricht und die Winter hier für mich schwierig sind. Ich will diese Gefühlsschwankungen nicht nochmal erleben und nachdem sie ihre Niere nun nicht spenden kann, stellt sich für mich wieder die Frage, wie geht es weiter und soll ich doch länger hier bleiben. Die Reise quer durch Kanada wollen wir nach wie vor machen, Start Mitte Juni. Bis dahin so viel Geld sparen wie möglich und danach hier noch gemeinsam den Rest des Sommers genießen. Im Oktober würde ich dann nach Deutschland fliegen. Aus zeitlicher Ferne ist der Gedanke erträglich, bei zuviel Visualisierung wird es unangenehm. Ich muss bis dahin einen Weg finden, dass mich der Abschied nicht überwältigt, die Perspektive wechseln. Selbst bei unserem Gespräch fiel es mir schwer, die Tränen zurückzuhalten. Der Plan ist nicht schlecht, meine Gefühle zu ihr dagegen vertiefen sich.
Sundae ist weiterhin mein Laufpartner
Zwei meiner Brüder wollen mich im Sommer besuchen kommen. Sherry findet langsam wieder zu alter Form zurück, die ganzen Tests und der mentale Stress haben sie ganz schön mitgenommen. Wir lachen nach wie vor sehr viel zusammen, kuscheln viel, sind liebevoll miteinander, wachsen zusammen. Und doch verhalten wir uns auf gewisse Art vorsichtig und zurückhaltend, die Zukunft ungewiss.
Mitte März. Ich fühle mich wie in einem Science-Fiction-Film. Corona/COVID 19 hat die Welt fest im Griff. Nach und nach schließen alle Länder ihre Grenzen, gehen in den sogenannten Lockdown. Seit gestern sind hier in Nova Scotia alle Parks und Strände zu, verboten zu betreten. Man darf höchstens zu fünft unterwegs sein. Beschränkungen in den Supermärkten, Plexiglas an den Kassen, Leute sind auf Abstand, alle Geschäfte zu. Wer weiß, wer so wie lange überleben kann. Viele Falschmeldungen kursieren. Panik, Lagerkoller, der unbegrenzte Nachrichtenfluss Tag für Tag bereitet mir Kopfschmerzen, von denen ich bald nicht mehr weiß, wann sie eigentlich anfingen. Bisher scheint es nicht so, dass die Welt in naher Zukunft in den Normalzustand zurückkehrt. Nahezu alle Flüge sind gestrichen, man redet davon, dass die Welt nicht mehr die gleiche sein wird. Ich kämpfe mit der Vorstellung, dass viele Menschen auch nach all diesem Wahnsinn verschreckt sein werden, übervorsichtig, auf Distanz, Berührungen seltener.
Unsere ersten Masken
Drei Wochen Lockdown. Wenn ich nicht mit Sherry in der Küche bin, gestaltet sich ein normaler Tag folgendermaßen: Kaffee machen, zurück ins Bett, Neuigkeiten im Netz lesen, aufstehen, frühstücken, wieder ans Handy, mit Freunden und Familie kommunizieren. Mittags mit Sundae spazieren, zurück im Haus. Lesen, chatten, joggen gehen, Abendessen kochen, Sundae nochmal ausführen. Die Abendgestaltung beläuft sich auf fernsehen oder lesen. Meine Laune schwankt, das Wetter ist nicht hilfreich, Temperaturen hier schwanken zwischen 0 und 15°, bleiben meist aber noch einstellig. Wenn ich dann noch die sommerlichen Tage in Deutschland sehe, sinkt die Stimmung. Zu alldem bewege ich mich nicht genug, bin gelangweilt wie nie zuvor. Bis Ende August scheinen alle öffentlichen Veranstaltungen abgesagt, unsere Tour quer durch Kanada wird auch immer unwahrscheinlicher. Fest steht, dieser eintönige Alltag tut mir nicht gut und ich blicke etwas neidisch nach Deutschland. da hätte ich auf jeden Fall wesentlich mehr Gelegenheiten, mich zu beschäftigen und Familie und Freunde zu treffen. Bis nach Sherry’s Geburtstag Mitte Mai will ich definitiv noch bleiben und dann ist wahrscheinlich ziemlich klar, ob unser Trip dieses Jahr realisierbar ist oder nicht. Vielleicht dann zum Halbjahr wieder in Deutschland beginnen? Aber wer weiß, wann überhaupt wieder regelmäßig Flüge gehen. Die Welt ist nicht mehr planbar.
Seit drei Monaten lässt Sherry verschiedene Tests über sich ergehen. Ihre Cousine Brenda leidet unter einer Nierenkrankheit und sucht einen Lebendspender. Ohne zu überlegen hat Sherry angeboten, sich testen zu lassen. Nun ist es kurz vor Weihnachten und alle bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. Die Regeneration nach der OP würde einige Wochen in Anspruch nehmen und ist für den Spender langwieriger als für den Empfänger. Sherry schlägt daher vor, nach Neujahr zwei Wochen in den Süden zu fliegen, bevor sie flachliegt. Natürlich bin ich gleich begeistert.
Sie bucht für uns zwei Wochen All-inclusive in Mexico in der Nähe von Tulum. Eigentlich graut es mir als Backpacker vor solchen Urlauben, aber ich will mich nicht querstellen, immerhin entkommen wir dem Winter für eine Weile und Sherry will entspannen.
Die Anreise läuft unkompliziert, dennoch haben wir einen holprigem Start, da wir ins falsche Hotel gebracht werden. Nach kurzer Recherche stellt sich heraus, dass der Fehler bei unserer Reisekauffrau liegt, die falsch gebucht hat, was ihr unglaublich unangenehm ist, sie sich tausend mal entschuldigt und schon am zweiten Tag sind wir umgebucht. Die Anlage ist top und das Essen gut. Ein typischer Tag hier gestaltet sich wie folgt: Fitness am Morgen (denn nach dem ersten Cocktail wird das schwierig), Cafe und Saft mit Blick aufs Meer, Frühstück, Pool oder Strand, Lunch, gegen fünf Uhr zurück aufs Zimmer und dann raus zum Dinner in einem der Themenrestaurants. Die Animation danach ersparen wir uns meistens.
Dass das nicht meiner Art zu reisen entspricht, war schon vorher klar und ich würde das wahrscheinlich auch kein zweiter Mal machen, nach der ersten Woche werde ich ein wenig hibbelig. Trotzdem genieße ich natürlich die Sonne, das Meer und die Annehmlichkeiten.
Wir zwei sind nach wie vor harmonisch, auch wenn über uns meine nahende Entscheidung dunkel schwebt. Das bringt unterschwellig Spannung, Schwere und Verschlossenheit mit sich, wir ziehen uns beide emotional zurück. Über bestimmte Dinge, die in der Zukunft liegen, reden wir nicht, da die Vorgabe ist und immer war, dass ich zurück gehe – wofür also über Zukunftspläne sprechen? Ganz stoisch legt Sherry eine Engelsgeduld an den Tag, innerlich ist sie nervös, unruhig, angespannt, versucht all das jedoch von mir fern zu halten.
Zurück zum Urlaub: Wir machen immerhin zwei Ausflüge: Ziplining im Park Explorer: für uns beide ist es das erste Mal und wir haben viel Spaß. Der Park ist gut integriert in seine natürliche Umgebung, man fühlt sich ein bisschen wie im Dschungel, fährt außerdem mit einem Amphibien-Auto und schwimmt durch Höhlen mit Fledermäusen, was uns sehr zum Lachen bringt. Wie immer sind wir ein gutes Team. Sowohl zum Park als auch bei unserem anderen Ausflug in den Ort Tulum sind wir mit dem lokalen Collectivo unterwegs, was mir als Langzeitreisende zumindest ein kleines bisschen Genugtuung gibt. Sherry ist wie immer easy und aufgeschlossen für das kleine Abenteuer. In Tulum bummeln wir durch die Straßen, machen Pause für ein Bier und kaufen Souvenirs.
Die Tage verstreichen und wir freunden uns mit anderen Hotelgästen an, darunter ein Paar aus Australien. Die beiden erzählen viel von dem Bränden, welche dort wüten und haben abgesehen davon noch viel Interessantes vom Land zu erzählen. Mit ihnen verabreden wir uns am letzten Abend zum Essen und verbringen ein paar schöne letzte Stunden.
Unsere Mission ist erfolgreich: wir sind braun gebrannt und aufgewärmt. Ich freue mich auf Sundae, die ich schon vor ein paar Tagen angefangen habe zu vermissen, was Sherry zum Schmunzeln bringt.
Im kalten Halifax erwarten uns -8 bis -16 Grad! Als wir am späten Abend heim kommen, müssen wir tatsächlich erst mal Schnee schippen, um dem Parkplatz für das Auto frei zu bekommen – welcome home!
In meiner Abwesenheit hat Sherry weitere Veränderungen im Haus vorgenommen und wir gehen nun gemeinsam viele Projekte an. Seit feststeht, dass sie das Haus vorerst behalten wird, ist die Motivation für Umgestaltung größer. Sherry ist diesbezüglich wie immer sehr einfühlsam, sieht, was ich brauche und ist kompromissbereit. So hat sie mir ein Zimmer im Haus zur Verfügung gestellt, welches ich ganz nach meinen Vorstellungen einrichten und dekorieren darf. Jetzt ist endlich Raum für meine Übungen, Meditation, Entspannung und Rückzug.
VorherNachher
Für den inneren Ausgleich und die Fitness laufe ich zudem regelmäßig, bei schlechtem Wetter ist Sherry’s neues Laufband goldwert. Sundae beschließt eines Tages, mich zu begleiten – das Winterwetter entspricht ganz ihrer Natur – und so wird sie zu meinem neuen Laufpartner.
Shubie Park am See und Point Pleasant Park direkt am Meer
Sherry und ich kommunizieren mehr. Denn wir waren wieder einmal an einem Punkt, an dem sie mir vor Augen hält, wie wenig sie aus mir heraus bekommt, dass ich mehr in Anwesenheit von Freunden rede als mit ihr. „Sollte es nicht so sein, dass dein Partner dein engster Vertrauter ist, dem du alles sagen kannst?“ Sie ist den Tränen nahe und auch ein Stück weit frustriert. In meinen Gesprächen mit ihr komme ich oft einfach nicht über meine Hemmschwelle, frage mich, warum ich die drei Worte nicht aussprechen kann und mir wird klar, ich habe das noch nie zu jemandem gesagt. Dabei möchte ich sie wissen lassen, was ich für sie empfinde. Ich spiele die Situation x-mal im Kopf durch, doch wenn ich sie dann vor mir habe, bin ich wie versteinert. Sie lässt mich wissen, dass sie nach wie vor in Deckung ist und vorsichtig mit ihren Gefühlen, da sie nicht wie andere zuvor davon ausgehen will, dass ich sie liebe. Denn ich hatte in der Vergangenheit schon so meine Sinneswandel bzw. nicht klar kommuniziert, was dem anderen das Herz gebrochen hat. Angestoßen durch ihre erklärte Zurückhaltung fasse ich mir eines Morgens, als wir wie immer noch eine Weile im Bett liegen, dann doch ein Herz und sage ihr die drei Worte. Ihre Reaktion: „This is quite the shocker!“ Wir brechen beide in Lachen aus.
Nachdem unsere Beziehung nun also eine neue Ebene erreicht hat und ich dem Winter hier mit all seinen Facetten mehr Positives abgewinnen kann, spiele ich mit dem Gedanken, meine Beurlaubung doch zu verlängern. Denn wenn ich zurück gehe, stehen die Chancen für unsere Beziehung ziemlich schlecht. Sie hat es so formuliert: zunächst werden wir noch viel in Kontakt sein, doch das ebbt ab. Sie in mein Leben dort zu integrieren, ist wesentlich schwieriger, meine Lebensart dort ganz anders. Wir würden für immer verbunden sein, aber jeder wird dann sein eigenes Leben weiterführen und sie wird irgendwann wieder mit jemanden zusammen sein, muss mit ihrem Leben weitermachen. “Whatever you decide you’ll have a great life.” Doch der Gedanke, mit der Rückkehr gleichzeitig die Beziehung zu beenden, schmerzt. Ich lerne mit ihr mehr über mich, andererseits ist es verlockend, in vertraute Gewässer zurückzukehren. Ich schiebe die bevorstehende Entscheidung vor mir her.
Winter in Halifax
Mit Beverly und ihren Schwestern besuchen wir Sherry’s Bruder Travis und seine Frau Diana. Es amüsiert mich, die drei Schwestern gemeinsam zu erleben, aber der Tag stimmt mich nachdenklich: Beverly’s Schwester Marilyn scheint ein sehr einsames Leben zu führen, mit schlechtem Verhältnis zu ihrer Tochter, quasi keine Freunde. Als ich die Schwestern so reden höre, stelle ich mir mein eigenes Leben in vielen Jahren vor und sehe mich inmitten von vielen Freunden. Mir kommt die Frau vom Markt wieder in den Sinn, die damals zu mir sagte, ich solle mir das gut überlegen, ob ich hier bleibe, denn die Freundschaften werden nicht die gleichen sein. Ich denke an Mamas Leben und wie gut sie sozial vernetzt ist, auch gegeben durch ihr Leben in einem Ort auf dem Dorf.
Aunt Del, Mum Beverly und Aunt Marilyn
Anfang Dezember erreicht mich eine traurige Nachricht aus Frankreich: Helga, die Tante von sehr guten Freunden ist gestorben. Das haut mich ziemlich um. Viele Sommer habe ich an der Atlantikküste verbracht und über die Jahre eine besondere Beziehung zu Helga aufgebaut. Ich wusste, dass sie in den letzten zwei Jahren stark abgebaut hat und dement war, aber die Nachricht ist dennoch schockierend. Helga ist einer der unkonventionellsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Vor zehn Jahren war ich das erste Mal in Cap Ferret in Frankreich und bei Helga, habe sie über die Jahre kennen und lieben gelernt, ihre Eigenarten genossen, ihre Geschichten gerne gehört. Wir hatten eine Phase, in der wir jede Woche telefonierten. Helga war eine ganz besondere Frau, bildhübsch, hoch attraktiv, sensibel, ein Auge für die kleinen Dinge, Liebe zur Poesie, offen, verrückt, meistens von Leichtigkeit getragen mit tiefem Kern. Viele Erinnerungen gehen mir durch den Kopf: gemeinsames Kaffee trinken am Morgen, ihr Einrichtungsstil, Hang zur Farbe weiß und bunt, unzählige Cremes im Bad, ihr graziler Körper, der eine robuste tiefe Stimme hervorbrachte, ihr lautes Lachen, ihre Ehrlichkeit, ich habe viel von mir in ihr gesehen. Selten habe ich mich in einem Ort wohler gefühlt. Nun ist sie nicht mehr da. Heute bin ich sehr traurig.
Erinnerungen mit Helga
Die Weihnachtszeit ist gefüllt mit Einladungen bei Freunden, Schrottwichtel-Party, Tanzabend, Theater und mehr.
Es weihnachtet sehr…
Noch eine Woche bis Weihnachten und nichts ist entschieden. Mein Herz sollte klar sprechen, aber ich bin völlig hin und hergerissen oder sehe einfach nicht klar. Mein Kopf ist überlastet. Wo sehe ich mich in fünf Jahren? Keine Ahnung. Gefühlsmäßig scheint es einfacher, die Beurlaubung um ein Jahr zu verlängern, uns mehr Zeit geben. Nur was mache ich dann in einem Jahr? Wird es dann nicht nur noch schwieriger, hier aufzubrechen? Ich kann meine Situation nicht ausstehen. Meine Schwester sagt, wenn ich mit Sherry dieses Wir-Gefühl habe, sollte das auf jeden Fall Vorrang haben. Man weiß zudem nie, wie es kommt, muss nach dem jetzigen Gefühl entscheiden. Ich sehe keine befriedigende Lösung. Wenn ich bleibe, leidet mein Herz jeden Tag ein kleines bisschen. Wenn ich gehe, ist der Schmerz überwältigend: sie von heute auf morgen nicht mehr in meinem Leben zu haben, ein Stück von mir zurück zu lassen, zu gehen, obwohl es wunderbar zwischen uns läuft. Komme ich zu Hause auf Dauer wieder zurecht? Ist das Leben hier das, was ich will? Lebt wirklich jeder sein eigenes Leben vorrangig in einer Partnerschaft? Ich sehe da nach wie vor mit Freunden und Familie mehr Miteinander. Wie fühlt sich der Gedanke von alleine sein an? Was ist mein Ziel? Was will ich erreichen? Das Gedankenwirrwarr macht mich wahnsinnig. Willst du wieder alleine leben? Mehr Zeit mit Freunden hier und da und dort verbringen? Kannst du dir wirklich vorstellen, in deine alte Wohnung zu ziehen, wieder fest als Lehrer zu arbeiten, gebunden ans Schuljahr, dein Ding machen, deine Urlaube, und so weiter? Wenn du hierbleiben solltest, wie soll dein Leben aussehen? Was ist dir wirklich wichtig? Gibt es eine Variante, mit der du zufrieden leben kannst ohne zu denken, woanders wäre es schöner? Ein Weg, der dich zufrieden zurückblicken lässt. Was genau bringt dich zum weinen, was genau macht dich traurig? Bist du dir wirklich sicher, dass du zurück willst oder hat sich die Welt zu sehr gewandelt und du hältst an etwas fest, was so gar nicht mehr existiert? Empfindest du dein Leben als aufregend? Welcher Lebensart möchtest du nachgehen?
Wie befreie ich mich aus dieser Gedankenspirale?? Wenn der Druck größer wird, muss eine Entscheidung her und das wird spätestens Ende Januar sein.
Vorsätze fürs neue Jahr? Ich will einfach nur mehr Klarheit, einen Weg vor Augen haben, wieder mit vollem Herzen und ruhigem Geist leben… Happy New Year 2020!
Kaum in Deutschland, erlebe ich bereits am Frankfurter Flughafen einen unerwarteten Kulturschock, nachdem ich ungeduldige Deutsche beobachte, die sich unverschämt verhalten und beschweren – da sind Kanadier definitiv entspannter. Doch kaum sehe ich meinen Bruder, der mich hinter den Schiebetüren empfängt, spüre ich eine vertraute Wärme.
In den ersten Tagen erledige ich ein paar organisatorische Dinge in der Stadt. Über einen Freund habe ich verdammt günstig ein Auto gekauft – immerhin bin ich voraussichtlich drei Monate hier und habe mit Sherry zwei Wochen Roadtrip geplant. Außerdem aktiviere ich meine Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Vor meinem Aufbruch vor drei Jahren verbrachte ich hier viel Zeit und war fit wie nie zuvor. Körperlich ausgelastet zu sein, tut gut, beruhigt meinen Geist mit meditativer Wirkung. In Halifax bekomme ich das bisher einfach nicht so hin.
Ich fühle mich ein wenig fremd, vieles ist hier anders: mehr Menschen, mehr Autos, alles enger, hektischer. Ich schaue zum ersten Mal nach drei Jahren auf meinen Arm, wo die Uhr ihren Platz hatte.
Die ersten Wochen füllen sich schnell mit Verabredungen mit Freunden und Familie, dennoch versuche ich Freiraum für Spontanes zu lassen.
Familientreffen bei Mama und Papa, Tag am See mit Schwester+Familie, Nachmittag im Schlosspark mit Schwägerin
Ich halte meinen jüngsten Neffen zum ersten Mal im Arm
Leben mit Rainer und Vera, Weinfest mit Ex-Schülerin und ihren Eltern – die waren mir schon immer sympathisch (und mit denen wollte ich schon immer einen trinken gehen). Wiedersehen mit Kollegen und Freunden:
So viele geliebte Menschen wiederzusehen, macht das Ankommen leichter.
Meine Schwägerin Marina ist hochschwanger, sie wirkt entspannt, wesentlich ausgeglichener, in sich ruhender. Sie und David werden umziehen in die Pfalz. Ich verbringe einen Samstag Nachmittag mit ihr im Johanneshof in Hockenheim.
Mama freut sich riesig, dass ich da bin. Habe sie selten so gesehen, sie zeigt viel Gefühl, sagt mir, wie gut ich aussehe. „Du bist ein goldiges Mädel.“ Sie sieht mich nicht zurück hier als Lehrerin in einer Struktur, die einschränkt. Meine Schwester Veronica wirkt sorgloser und gechillter, arbeitet an sich selbst, ihr Humor ist nach wie vor einzigartig, ihre Kinder entwickeln sich toll, meine Nichte ist schon sechzehn. Meine Schwester Anne und ihr Freund Philipp sind wie Topf und Deckel. Passt! Ich freue mich sehr für sie.
Etwas in mir nagt. Will ich wirklich zurück? Ich fühle mich fremd, einiges hat sich verändert, hier und in mir. Was will ich? Was brauche ich? Wo will ich sein? Was will ich in meinem täglichen Leben?
Ganz langsam gewöhne ich mich wieder an Deutschland. Obwohl ich gut beschäftigt bin, habe ich Momente, in denen ich nicht so ganz weiß, was ich mit mir anfangen soll und denke dann zuviel: Mit jedem Tag länger hier merke ich, dass ich einfach nur genügend Geduld zum Eingewöhnen brauche, dann lebt es sich hier auch wieder zufrieden. Ohne Sherry würde ich ziemlich sicher nächstes Jahr wieder hier einsteigen. Sie will kommenden Sommer quer durch Kanada reisen, da ist es verlockend noch ein Jahr Auszeit dranzuhängen, ansonsten wird das gemeinsame freie Zeitfenster zu eng. Doch das wären ab jetzt noch zwei volle Jahre – wie fülle ich diese sinnvoll und befriedigend? Meine Wohnung, die mein Bruder Baldi nach wie vor bewohnt, fühlt sich nicht mehr wie meine an. Der Garten fehlt, etwas mehr Platz – vielleicht ist es an der Zeit die Wohnung aufzugeben, etwas Neues zu suchen, wenn ich denn zurückkomme? So geht es in meinem Kopf hin und her, mal lauter, mal leiser. Im kommenden Winter steht eine Entscheidung an.
Sherry fehlt mir, ihr Wesen, ihre körperliche Anwesenheit. Nie stand ich einem Partner näher.
Ich besuche Eva und Franzi in Frankfurt; gar nicht so einfach, gemeinsame freie Zeit zu finden. Eva und Christian mit drei Kindern – steht ihr gut. Wenn ich sie mit ihrer Familie so beobachte, kommen mir Erinnerungen an unsere gemeinsame Schulzeit, wir kennen uns seit der fünften Klasse. Nun leben wir das Leben wie damals unsere Eltern, sind mittendrin, keine Kinder mehr. Jetzt findet das Leben statt – mit allem, was dazugehört.
Eva schickt mir regelmäßig Bilder aus ihrem Familienleben
Mein Cousin Peter heiratet Ende August. Ganz traditionell findet vorher ein Polterabend in unserem Heimatdorf statt. Meine andere Freundin Eva begleitet mich. Ich verbringe gerne Zeit mit ihr, uns verbindet mittlerweile einiges und wir sind in derselben Gegend aufgewachsen. Vorher schauen wir bei Mama vorbei, sie ist richtig gut drauf und erzählt zwei Stunden von früher, wie sie und Papa überhaupt dazu kamen, zu adoptieren. 34 Pflegekinder haben sie insgesamt aufgenommen! Fun fact: Eva’s Vater war damals der Richter, der entschied, dass Baldi und ich in der Familie Holder bleiben.
Polterabend
Am nächsten Tag veranstalten mein Bruder Baldi und drei Freunde einen Tag der offenen Tür und Vorträge zu ihrer Arbeit, die sie in Zukunft anbieten möchten: Familienaufstellungen, Stressbewältigung, Umgang mit Emotionen. Baldi so zu sehen, ist wunderschön und beeindruckend, nach all dem, was er durchgemacht hat. Er weiß genau, wovon er spricht, ist authentisch und souverän. Seine Freunde tun ihm gut, stärken ihn.
Mehr Begegnungen, die mir gut tun – dabei alles immer in Bildern festzuhalten, ist schwierig, da ich manchmal wirklich einfach nur genieße und im Moment bin. Ich verbringe mehr Zeit mit Baldi, See mit Nichte Soraya, Nachmittag mit David, Marina, Diana und Meike – die beiden Mädels haben eine neue Wohnung in traumhafter Lage.
Da ich wie immer bei Rainer und Vera wohne, verbringe ich ganz natürlich viel Zeit mit den beiden, Rainer nennt uns drei (Vera, Sohn Paul und mich) ganz liebevoll seine Mitbewohner. Unser Zusammenleben funktioniert reibungslos und die gemeinsamen Gespräche sind bereichernd.
Bild ist geklaut, fand ich aber so schön 🙂
Im Kreise von liebevollen vertrauten Menschen fühle ich mich nach und nach wieder mehr zuhause.
Dann ist es soweit und Sherry landet am 25.August in Frankfurt. Dieses Mal überforderte ich sie nicht gleich am ersten Tag mit Programm und gebe ihr Zeit zum Eingewöhnen. Dennoch steht in der ersten Woche einiges an: Filmfestival, Tage am See, Speyer, Schlossgarten Schwetzingen, Johanneshof, Hochzeit meines Cousins Peter, Marina bringt Levi zur Welt.
Es fühlt sich gut an, sie hier zu haben. Sie ist entspannt und unkompliziert wie immer.
Hochzeit im Schloss Michelfeld
Woche zwei: Wandern in der Pfalz, Zeit mit Familie, Frankfurt mit Eva und Franzi
Main und Altstadt
Markthalle Frankfurt
In Frankfurt schlafen wir bei Eva, Franzi lädt an einem Abend zum Essen bei sich ein. Der Wein fließt und wir reden unter anderem viel über mich und wie es nun weitergeht. Das Englisch der beiden ist gut, was unsere Unterhaltung erleichtert. Denn oft geht einiges bei der Übersetzung verloren oder man wechselt unbemerkt ins Deutsche. Folglich entgehen Sherry Teile der Konversationen und es lastet Druck auf mir, sicherzustellen, dass sie alles mitbekommt.
Als ich später mit Sherry im Bett liege, hallen die Fragen des Abends nach. Meine Unentschlossenheit führt zu Frustration auf beiden Seiten. So geduldig sie ist, braucht natürlich auch sie irgendwann Antworten. Die Frage, wie und ob es gemeinsam weitergehen kann, steht immer im Raum. Der Gedanke, dauerhaft in Kanada und damit entfernt von Familie und Freunden zu leben, ist belastend. Die langen Winter stellen eine zusätzliche Herausforderung dar. Sherry erinnert sich noch genau, wie ich letzten Winter dahing und hat Bedenken. Ich sehe wiederum nicht, dass Sherry sich hier niederlässt. Gleichzeitig beängstigt mich manchmal der Gedanke, mich wieder in Deutschland anzusiedeln und mein unverbindliches Leben hinter mir zu lassen. Doch ich möchte nicht mehr länger in diesem ungewissen Zustand verharren, sehne mich nach Zielgerichtetheit, tieferem Sinn, Gemeinschaft, mehr Sport. In meinem Zwiespalt überkommt mich in den letzten Wochen manchmal das Gefühl, aufzugeben, Sherry gehen zu lassen, da ich keinen zufriedenstellenden Kompromiss finde. Bedeutet meine Unentschlossenheit, dass meine Gefühle nicht klar genug, nicht stark genug sind? In Halifax ist Sherry mein Dreh- und Angelpunkt. Mit meiner Lebensart in Deutschland hätte sich wahrscheinlich nichts zwischen uns entwickelt als Liebespaar. Zwei Welten, jede für sich wunderschön, die ich nicht zu verbinden weiß.
Meine Säulen sind am Wanken, ich finde meine innere Mitte nicht.
Sherry und ich fahren für zwei Wochen Richtung Süden. Ein Fokus dieser Reise ist für mich, Sherry die Vielfalt Europas aufzuzeigen.
Wir starten in Luzern in der Schweiz: Spaziergang durch die Stadt und Gipfel des Pilatus, auch Drachenberg genannt.
Luzern
Berg Pilatus
Nächster Halt: Gardasee. Hier bleiben wir eine ganze Woche, übernachten zuerst im Norden, werden dann aber weiterziehen an die Südseite.
Riva del Garda
Von Riva aus machen wir eine Fahrradtour nach Arco, wo wir einen Aperitif zu uns nehmen und durch die Straßen schlendern.
Arco
Die Fahrradtour muss natürlich mit einem zweiten Aperitif abgerundet werden
Wir verlassen den Norden und halten auf dem Weg zu unserer nächsten Unterkunft in Limone und Salo. Die engen gewundenen Straßen kombiniert mit meinem Fahrstil lösen bei Sherry leichte Nervosität aus.
Limone
Der Aperitivo am Nachmittag ist mittlerweile obligatorisch.
Salo
Beim Stöbern nach Unterkünften um den See sind uns einige Landhäuser aufgefallen. Um unsere Reise möglichst abwechslungsreich zu gestalten, haben wir uns in ein Hotel im kleinen Dorf Moscatello gebucht, ca 20 min südlich des Sees. Der Pool ist mit ein paar Schritten erreichbar und zum Frühstück gibt’s viel Hausgemachtes.
Tagesausflug nach Sirmione und Peschiera:
Ganz in der Nähe gibt es einen Erlebnispark. Sherry bettelt mich seit Tagen an, ob wir hingehen können. Begeistert bin ich nicht von der Idee, da man Stunden mit Anstehen verbringt. Zudem haben wir in unserer Kindheit genug Zeit in solchen Parks verbracht und in dem Alter macht einem das Warten nichts aus. Aber ich will kein Spielverderber sein, es geht oft genug nach meiner Nase, also fahren wir einen Nachmittag ins Gardaland. Wir starten den Tag im Nachbardorf Pozzolengo, dort findet ein traditionelles Dorffest statt. Außerdem bin ich von Rainer und Vera beauftragt, Trüffel zu finden. Die Straßen sind gefüllt mit Ständen, es gibt Aktivitäten für Kinder und wir finden tatsächlich Trüffel! Der wird uns die nächsten Tage das Auto vollstinken, aber das breite Grinsen auf Veras Gesicht hinterher ist es wert. Wir finden zudem heraus, dass später eine Art Weinprobe stattfindet und wollen am Abend wiederkommen.
Erlebnispark Gardaland
Zurück in Pozzolengo
Weintrauben kosten
Nach unserem Weinabend verbringen wir den nächsten Tag in Verona.
Julia’s Balkon aus Romeo und Julia
Sherry’s Bruder Luke ist auch auf dieser Reise dabei und kommt mittlerweile ganz schön rum.
Mit der Abenddämmerung erreichen wir unser Hotel in den Weinbergen und übertrifft alle Erwartungen. Unser Zimmer ist dem Thema Pferde gewidmet – I love it!
Unser Zimmer
Der Kellerbereich
Letzter Halt: Berchtesgaden. Wir machen die anspruchsvolle Grünstein Wanderung am Königssee. Sherry wird physisch an ihre Grenzen getrieben, meistert den Berg aber und erzählt bis heute, dass ich sie fast gekillt hätte.
Auf Empfehlung umrunden wir am Abend den naheliegenden Hintersee – wunderschön idyllisch.
Meine Stimmung ist überwiegend gut. An einem Tag überkommt mich jedoch ein Gefühl von schwindender Hoffnung. Ich habe keine Antworten parat für Sherry, sie weiß nicht, woran sie bei mir ist, ihre Geduld wird nicht unendlich sein, ich ziehe mich innerlich zurück. Wie soll ich das je mit jemanden hinbekommen?Zurück am Rhein bleiben uns noch wenige Tage vor Sherry’s Abreise. Das Zeter Berghaus bietet sich an für einen sonnigen Herbsttag. Dort gibt es außerdem meiner Meinung nach die besten Bratkartoffeln.
Zeter Berghaus
An unserem letzten gemeinsamen Tag fahren wir nach Mußbach. Dort gibt es neuen Wein – wir bleiben länger als geplant und es wird, wie man so schön sagt, feuchtfröhlich!
Ein Halifax und Canada Begeisterter setzt sich zu Sherry
Sherry fliegt zurück nach Halifax. Die letzten Tage hier waren schön, aber auch angespannt, da mit ihrer Abreise die Frage im Raum steht, wie es nun weitergeht.
Lunch im Va Piano, bevor ich Sherry zum Flughafen bringe
Einen Rückflug habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebucht, was aus ihrer Sicht zusätzlich entmutigend ist. All diese Spannungen entladen sich in unserer letzten gemeinsamen Nacht. Ich bin verkopft, zweifelnd und irritiert. Mein distanziertes Verhalten in Deutschland hat auf ihrer Seite Unsicherheit hervorgerufen. Wenn ich mal rede, ist dies für mich ein riesiger Schritt, für sie ist es mühsam. Sie geht mit offenem Geist und Herz an uns heran, auch wenn die Bedingungen schwierig sind. Ich mache nicht wirklich auf. Kommentare meiner Freunde schwirren mir durch den Kopf: „Du musst doch spüren, was du fühlst, auch wenn du es nicht aussprichst.“ „Für dich ist nach wie vor das Gras auf der anderen Seite grüner.“ Ich kann mich zu keiner tiefgreifenden Entscheidung mehr durchringen, welche Ziele habe ich eigentlich?
Hindernisse sind die furchterregenden Dinge, die du dann siehst, wenn du dein Ziel aus den Augen verlierst.
Mit Sherry fühle ich mich zuhause, sie überrascht mich fast täglich, gibt mir das Gefühl bei ihr sicher zu sein. Sie hält unsere Beziehung spannend, ich lerne, wie Reden eine Beziehung bereichert.
Nach Sherry’s Abreise bleiben mir nochmal vier Wochen. Ich treffe ehemalige Schüler, Heidelberger Herbst, Frühstück mit Bernd, Hafenstrand in Mannheim.
Viele Gespräche in den letzten Tagen: „Wenn du es fühlst, brauchst du keine Erklärung, keine Worte.“ „Wenn man es fühlst, ist es einfach klar.“ Wahrscheinlich habe ich das einfach noch nie erlebt, hatte bisher keine gesunde und tiefgehende Beziehung. Ich möchte noch mal mehr Zeit mit Sherry. Glaube, dass ich dieses Mal ziemlich schnell spüre, was ich zu tun habe. Ich bin rastlos, der Gedanke, das Reiseleben erstmal zu beenden, wieder nach Hause zu kehren, ist schwer. Mein Leben in Halifax ist wie eine Art Blase. „Komm doch heim und arbeite erst mal wieder und vielleicht brauchst du dann einfach alle drei bis vier Jahre ein Sabbatjahr.“
Was fühle ich, was spricht mein Herz, was sagt meine innere Stimme?
Wie immer, wenn die Abreise näher rückt, ist verdammt viel los: Mehr Freunde treffen, Brunch bei Mama und danach Babyparty bei Meike und Diana. Es tut richtig gut, inmitten von Familie zu sein. Seit langem habe ich mal wieder das Gefühl voll dabei zu sein.
Mexikaner mit meinem Freund Rainer, über den ich mein Auto gekauft habe. Er lässt mich seinen Porsche fahren, mit 270 km/h ein neuer Rekord für mich.
Außerdem verbringe ich nochmal viel Zeit mit Rainer und Vera: viele gemeinsame leckere Abendessen und offene Gespräche. Vera genießt die zweite Frau im Haus. Ich treffe eine alte Freundin. Dass wir so lange gar keinen Kontakt hatten und uns bei meinen letzten Besuchen auch nicht gesehen haben, hat mich zu lange bedrückt. Unser Wiedersehen ist sehr herzerwärmend.
Ich besuche einen alten Kollegen. Neben Privatem sprechen wir über Schule und er fragt mehrmals nach, ob ich wirklich zurückkommen will. Die Frage bekomme ich oft, für viele sieht es so aus, dass ich auf Dauer weg bin. Der Gedanke hat sich in den letzten Wochen breit gemacht – ich muss das hier nochmal versuchen, die Sehnsucht nach Heimat ist zu groß. Ich habe in der folgenden Woche somit Gespräche an zwei Schulen und je mehr ich mich über die Tage mit dem Gedanken auseinandersetze, desto klarer werde ich, glaube, wieder eine Zielrichtung vor Augen zu haben, die Aussicht auf eine tiefgreifende Aufgabe macht etwas in mir lebendig. Als ich dann eines Abends bei Rainer und Vera von den letzten Entwicklungen erzähle, schaut er mich ganz entgeistert an, da das zum ersten Mal seit langem klare Worte aus meinem Mund sind. Ich verstehe seine Reaktion – mich selbst so reden zu hören, ist ungewohnt.
Der Oktober neigt sich dem Ende, ich reise ab, fliege zurück nach Halifax. Ich freue mich auf Sherry und mehr Zeit mit ihr, unser letzter Abschied war belastet. In diesem Thema tut sich viel bei mir in den letzten Wochen. Frage mich, was das zwischen ihr und mir eigentlich genau ist. Sherry als extrem fürsorgliche Frau erweckt bei mir ein Gefühl von Geborgenheit, welches mir durch den Verlust der Mutter damals genommen wurde. Im Sinne einer Analyse ist dies interessant, aber nicht hilfreich wie es konkret weitergeht. Und woher die Gefühle auch kommen mögen, sie sind da und aktiv. Ich zähle darauf, dass in den nächsten Wochen vieles klarer sein wird, ich spüren kann, wo es mich hinzieht, sich der Nebel lichtet.
Du solltest mit dem Suchen aufhören und mit dem Finden anfangen. – Rainer (aka Papa)
Die Nacht vor meinem Heimflug früh am Morgen verbringe ich am Flughafen in Cancún. Der Versuch, in einer Ecke auf dem kalten Fliesenboden zu schlafen, scheitert kläglich. Putzpersonal ist aktiv, der Boden hart und kalt. Als ich mich auf der Toilette frischmache, plaudere ich mit der mexikanischen Putzfrau, die nach ein paar Minuten ganz verstohlen ein Bier aus einem ihrer Putzeimer zieht und mir entgegenstreckt: „Wenn jemand fragt, das hast du nicht von mir.“ Sie ist so goldig, dass ich das Bier nicht ausschlagen kann.
Ankunft in Halifax: Als ich mit meinem Rucksack durch die Schiebetür trete und Sherry erblickte, entspannt sich etwas in mir. Der Überfall in San José ging mir tagelang nach. Wir lachen uns an, fallen uns in die Arme und sie fährt uns nach Hause. Nach einem freien Sonntag stehen wir montags wieder gemeinsam in der Küche und am darauffolgenden Samstag bin ich schon wieder zurück auf dem Markt. Alle freuen sich mich wiederzusehen, Mein Umsatz ist wie gewohnt, ich biete jetzt auch Thai Curry an.
Der Sommer bahnt sich an und die Stadt wird lebendig. Ich bin im richtigen Moment wieder da.
Die Bar Kismet, wo wir vor einem Jahr zum ersten Mal gemeinsam waren, ist eines unserer ersten Ziele.
Sherry genießt ein paar Austern
John (ursprünglich aus England) und ich hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander, kaum bin ich zurück, haben wir ein Date für einen Abend zu viert.
John hat wenige Tage nach meiner Rückkehr Geburtstag. Wir treffen ihn und Cyril auf der Terrasse der Bar Good Robot und ziehen dann weiter in das Pub Chain Yard, wo zwei Freundinnen von den Jungs dazustoßen.
Schon in der zweiten Woche kehrt mein Heimweh zurück – das ging schneller als gedacht. Sherry schlägt in ihrer Fürsorge vor, Ende August gemeinsam nach Deutschland zu fliegen. Das bedeutet noch zwei Monate warten, was mir in meiner Ungeduld lange vorkommt.
Sherry’s Vater will sich spontan mit uns auf einen Kaffee treffen. Sherry findet es seltsam, dass er ausdrücklich uns beide sehen will. Wir ahnen, dass er was zu sagen hat. Wir verabreden uns also im Starbucks um die Ecke und nach einer kurzen Einleitung erklärt er uns, dass er Sherry und ihren Brüdern jetzt Geld vermachen will und nicht erst, wenn er stirbt. Sie sollen ihr Leben jetzt genießen und nicht mehr so hart arbeiten müssen. So wie Sherry haben auch ihre Brüder ihr eigenes Unternehmen und stetig dafür gearbeitet. Sherry ist sprachlos, versucht ihre Fassung zu wahren, ich bin dabei, um auch sicherzustellen, dass alles verstanden ist. Für sie bedeutet das konkret, keine Sorgen mehr um das Haus und wie sie die hohe Rate jeden Monat bezahlen soll. Bis an ihr Lebensende braucht sie sich nie wieder ernsthaft Sorgen um Geld zu machen, der Druck ist weg. Tagelang kann sie es nicht glauben – verständlicherweise. Nächsten Monat soll das Ganze schon starten. Was für ein Wandel – sie nennt es Game Changer.
Endlich ist es richtig warm hier. Cafés, Bars und Restaurants haben ihre Holzterrassen auf den Gehwegen aufgestellt. Die Sommer hier sind kurz und werden daher um so mehr geschätzt. Die Optionen sind jetzt endlos: Tage am Meer, Sonnen, Baden, Festivals, road trips, Wanderungen, Wochenenden am See. Gereist wird dementsprechend hauptsächlich in der kalten Jahreszeit. Wir sind gut beschäftigt.
Spontaner Besuch bei Scott und Todd.
Wir versuchen die Arbeitstage früh zu beginnen und verbringen viele Nachmittage am Strand. Da Sherry etwas mehr Arbeit hat als ich, sind Sundae und ich immer gemeinsam unterwegs, ich verbringe viel Zeit im Park mit ihr, erziehe sie und so wächst sie mir mehr und mehr ans Herz.
Scott und Todd laden zu einer Gartenparty bei sich ein, im Winter sind die beiden wie vom Erdboden verschluckt.
In Pictou findet jährlich das Lobster Festival statt. Cyril ist dort aufgewachsen, seine komplette Familie lebt nach wie vor dort sowie einige seiner Schulfreunde. Somit fährt er regelmäßig in die Heimat. Er und John schlagen vor, mit ihnen das Festival Wochenende dort zu verbringen, wir sagen zu und dürfen sogar im Gästezimmer von Cyril’s Mutter nächtigen. Ein bisschen erinnert mich die Veranstaltung an ein großes Dorffest mit Kirmes, Umzug, Bierzelt und Musik am Abend.
Mitte Juli hat Beverly, Sherry’s Mutter, Geburtstag. Wir buchen drei Nächte in einem Cottage in Cambridge, inmitten verschiedener Weingüter. Die Gegend erinnert mich nach wie vor an das Pfälzer Weinland. Beverly sträubt sich zunächst bei dem Gedanken, drei Tage aus ihrer Routine geholt zu werden. Wochen vorher bereiten wir sie also auf den Trip vor, sie schwankt immer wieder hin und her, lässt sich letztendlich jedoch durch unsere Redekunst und die Bilder des schönen Cottage überzeugen. Unsere Unterkunft ist knappe zwei Stunden von Halifax entfernt. Auf dem Hinweg halten wir im Weingut Luckett zum Lunch.
Unser Cottage liegt direkt am See
Wir verbringen drei entspannte Tage im Haus am See. Tris, eine enge Freundin von Sherry, kommt uns an einem Nachmittag besuchen. Wir baden, testen das Kajak, ich fange beim Tauchen eine Wasserschildkröte und helfe Beverly bei der fragwürdigen und etwas lächerlichen Aktion, die Pfotennägel von Daisy, ihrem Hund zu lackieren. Beverly erzählt aus ihrem Leben, ich höre gerne zu, wenn sie Geschichten aus ihrem Leben teilt. Die Ruhe hier tut gut, es ist unglaublich friedlich.
An ihrem Geburtstag selbst gehen wir im Weingut Gaspereau essen und sie wird überrascht von der Familie, die bereits am Tisch auf uns wartet. Sie ist sehr gerührt.
Am selben Abend sitzen Sherry und ich spät bei klarem Himmel und romantischer Lichterkette im Freien.
Unsere Beziehung ist nach wie vor bereichernd, humorvoll und spannend. Sherry drückt aus, dass sie es sehr schwierig findet mit mir zu reden, da ich so verschlossen bin und sie keine Ahnung hat, wo sie steht. Sie sagt, ich muss mich öffnen, wenn ich eine gute Beziehung haben möchte. Meine Freunde würden ihr vielleicht widersprechen, da es mir mit ihnen leichter fällt, über alles zu reden. Die Barriere scheint groß, meine Gefühle zu verbalisieren.
Pride Halifax
Früher als angedacht ist es Ende Juli soweit: ich sitze am Flughafen und warte auf meinen Flug nach Frankfurt. Sherry kommt in drei Wochen nach und ich habe bis dahin etwas Zeit, um Freunde und Familie zu treffen. Ich sollte voller Vorfreude sein – Sommer in Deutschland – das habe ich doch so lange vermisst! Was ich jedoch in diesem Moment fühle, ist Traurigkeit. Es ist seltsam, Sherry nicht bei mir zu haben. Klar ist es schön, in die Heimat zu kommen, aber unterschwellig ist das Gefühl da, dass ich weder in Halifax noch in Mannheim vollkommen da bin. Tatsächlich lebe ich in Halifax mit Sherry und dem Hund Sundae, habe endlich mehr Kontakte, ihre Eltern haben mich ins Herz geschlossen. Beverly nennt mich liebevoll ihre andere Tochter. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich wirklich bereit bin, wieder in das hektischere Leben einzutauchen, habe mich an den Freiraum gewöhnt, an die entspanntere Gangart, die Nähe zum Meer. Schon lange ist klar, dass ich eine für mich sinnvollere Aufgabe brauche, wonach ich in Halifax bisher nicht gesucht habe. Sherry bedeutet mir mehr denn je. In den letzten Wochen ertappe ich mich dabei, wie ich sie ansehe und mir im Kopf die Worte sage, die ich nicht über die Lippen bringe. Sollte ich nächstes Jahr wirklich mein Leben in Deutschland wieder aufgreifen, bedeutet das viel Zeit getrennt, der Gedanke zerreißt mich innerlich. Ich habe die Befürchtung, dass ich immer hin und hergerissen sein werde. Meine Zeit weg von zu Hause war zu lang um einfach wieder einzusteigen, in Halifax habe ich ein zweites Zuhause gefunden.Vielleicht bin ich gerade auch einfach zu müde und zu dramatisch. Keine Ahnung, was in sechs Monaten sein wird. Sherry will nächsten Sommer quer durch Kanada fahren. Da ist es verlockend noch ein freies Jahr dranzuhängen.
Ich freue mich auf meine Geschwister, meine Eltern, meine Freunde.
Meine Reise beginnt wie so oft bei Carola in Virginia.Während ich auf meinen Flug warte, telefoniere ich mit Mama, erzähle ihr von meinen schweren Wochen, meinen Gefühlsschwankungen. Mit ihr zu sprechen, tut gut.
Kaum bei Carola angekommen, ist es unterhaltsam wie immer, wir verstehen uns blind. Das Wetter spielt auch mit: 27 Grad, Sonne, Pool – überragend! Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Carola meinte schon vor Jahren zu mir, dass das Klima hier perfekt ist: die Sommer werden schön warm und im Winter gibt es richtig Schnee. Bisher muss ich ihr recht geben.
Die ersten Tage ohne Sherry fühlen sich seltsam an. Unsere Beziehung hat sich aufgebaut aus ständiger physischer Nähe, zusammen leben und arbeiten. Sie fehlt – nach der extremen Nähe nicht verwunderlich.
Ich gehe jeden Morgen laufen und denke viel über mich und meine Beziehung zu Sherry, einer Frau, nach. Ich spüre ein Wir-Gefühl, Vertrauen, fühle mich gut aufgehoben, bin nicht wie so oft vorher in meinem Freiheitsgefühl eingeschränkt, alles läuft ungewohnt harmonisch. Wie man vielleicht vermuten würde, habe ich allerdings nicht plötzlich das Ufer gewechselt. Ich war offen für etwas Neues, Sherry ist eine verdammt coole Frau und so hat sich mehr zwischen uns entwickelt. Carolas Mann reagiert auf meine Zerrissenheit mit folgendem Gedankenanstoß: „Du musst dich fragen, was brauche ich im Leben unbedingt und was hätte ich gerne. Und dann stell sicher, dass du Ersteres hast.“Wie immer genieße ich die Zeit hier mit den Kindern, Payti wird von Tag zu Tag kuscheliger. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht doch Kinder will, aber jetzt noch dieses Fass aufmachen… Als hätte ich nicht schon genug zu entscheiden. Die Tage vergehen schnell. Ich verbringe den Alltag mit Carolas Familie, wir haben viel Zeit zum Reden und entpflanzen einen toten Baum in deren Garten. Carola weigert sich nämlich, jemanden für die Arbeit zu bezahlen und ein kleines bisschen will sie auch ihrem Mann beweisen, dass wir das alleine hinbekommen. Nach den ersten Hieben mit Hacke und Schaufel regt sich kaum etwas und ich bin etwas entmutigt, doch Carola ist fest entschlossen – unbeirrt hacken, graben, rütteln und schaufeln wir – als das Ding dann endlich nachgibt, sind wir mächtig stolz!
Nach einer knappen Woche ist es Zeit Abschied zu nehmen und ich trete meinen Flug nach Managua an. Zu später Stunde Ortszeit lande ich in der Hauptstadt, nehme ein Taxi zum Hostel und bin überrascht, wie heiß es hier nachts noch ist. Am nächsten Tag gehe ich es langsam an, denn zu sehen gibt es hier eh nichts und mein Körper ist am akklimatisieren, ich bin am Dauerschwitzen. Eine Runde laufe ich aber doch durch die Stadt, um irgendetwas gemacht zu haben. Die Hitze ist pervers.
Fruchtsaft ‚to go‘
Ruth vom Hostel ist gesprächig, gibt mir Tipps für meine Reise und macht mir am Abend veganes Essen. Ich treffe auf Josh (USA) und Tomo (England) und wir gehen ein paar Bier trinken. Am nächsten Morgen nehme ich den Bus nach Leon.
Hier ist es wesentlich bunter und schöner, mehr so wie ich Städte in Lateinamerika gewohnt bin.
Auf dem Dach der Kathedrale von León
Das Hostel ist super schön mit offenem Innenbereich und vielem, was ein gutes Hostel ausmacht: gut ausgestattete Küche, viele Chill-Bereiche, Picknickbänke im Essbereich und komfortable Betten.
Ich nehme an der Walking tour am Nachmittag teil und lerne viel über die Geschehnisse hier letztes Jahr: Demonstrationen wegen einiger Unzufriedenheiten mit der Politik, welche gewaltsam niedergeschlagen werden. Über 800 Menschen wurden bisher getötet, in den ersten zwei Monaten verlassen über 42.000 Menschen das Land. Der alleinige Grund, warum es jetzt ruhig ist, ist Angst – gelöst ist nichts.
Abends koche ich im Hostel, quatsche mit ein paar Leuten.Donnerstag steht Volcano Boarding auf meinem Programm. Ich entscheide mich für eine Organisation, die Geld für Projekte einsetzt, die der Kommune helfen. Heute bin die einzige – auch gut, so habe ich den Guide Luis und den Fahrer für mich alleine und kann mein Spanisch üben.
Luis kommt aus dem Norden des Landes und erzählt, dass er zu Schulzeiten täglich auf seinem eigenen Pferd zur Schule ritt. Zwei Stunden war der Weg einfach, das ergibt vier Stunden auf dem Pferd jeden Tag – ein für mich schönes Beispiel für die unterschiedlichsten Lebenswelten auf unserem Planeten. Ich spreche die beiden auf Probleme im Land an, die ich sehe: Überall Müll, Leute werfen alles unbesorgt auf die Straße oder in die Büsche. Der Fahrer meint, dass bisher wenig Aufklärung stattgefunden hat, ein Bewusstsein für Umweltschutz ist nicht wirklich vorhanden. Um mehr Anbaufläche zu bekommen, werden außerdem illegal Felder abgebrannt, das Feuer gerät außer Kontrolle, kleine Wälder brennen ab.
Nach über eine Stunde Autofahrt erreichen wir den Vulkan; der Wind hier kühlt angenehm.
Der Aufstieg geht relativ schnell. Oben angekommen, bekomme ich eine Art Schutzausrüstung gegen Asche und kleine Steine, kurze Einweisung und wie auf einem Schlitten geht’s den Berg hinunter.
Innerlich vergleiche ich mit dem Vulkan in Chile und der Schlittentellerfahrt und bin nicht sonderlich beeindruckt – zu kurz, zu leicht zu erklimmen. Ich hatte schon geahnt, dass es mir so gehen wird, aber was soll’s. Viel Zeit zum Spanisch üben hatte ich und etwas für einen guten Zweck gegeben.
Obwohl es nicht mega anstrengend war, bin ich ganz schön müde und hungrig als wir zurück in Leon ankommen. Im Cafe ‚Mañana Mañana‘ gönne ich mir erst einen Cappuccino mit Keks.
Dann ziehe ich weiter zum ‚Coco Calala‘, da freue ich mich schon seit Tagen drauf, nur vegane Gerichte auf der Karte.
Frittierter Blumenkohl mit frischem Gemüse in weichen Maisfladen und leckere Dips
Soweit läuft es hier gut. Ich habe nette Gespräche und bin neugierig auf den Rest des Landes. Ab und an hätte ich gerne Sherry bei mir oder einen Freund, um meine Erfahrungen zu teilen. Ich vermisse sie und mache mir viele Gedanken, wie und wo es jetzt eigentlich weitergehen soll.
Ich dachte, ich hätte eine Entscheidung getroffen und jetzt wanke ich doch wieder hin und her. Ich will zu viel, irgendeine Tür muss ich schließen, um vorwärts zu kommen.
Am Freitag laufe ich bepackt mit großem und kleinen Rucksack in der glühenden Hitze 25 Minuten zur Bushaltestelle anstatt für 1$ ein Taxi zu nehmen, der sogenannte Chicken Bus kostet dann 15 Cordoba, was weniger als einem Dollar entspricht, ich bin schweißgebadet. Ziel ist Las Piñetas, ein kleiner Ort direkt am Meer. Der Bus ist voll mit Schulkindern, einer Frau mit Wellensittich und Verkäufern, die ihre Snacks loswerden wollen. Müll wird von klein und groß achtlos aus dem Fenster geworfen.
Zwei Stunden später bin ich im Hostel Mano a Mano. Hier geht endlich wie erhofft ein Wind und die Hitze ist leichter zu ertragen – Bikini an und ab ins Wasser.Als ich aus dem Nass komme, sehe ich eine junge Frau auf einem Liegestuhl sitzen. Wir begrüßen uns und kommen direkt ins Gespräch. Mir fällt sofort ihr britischer Akzent und ihre tiefe Stimme auf. Sehr schön, mag ich doch gleich – Rebecca ist ihr Name. Ich erfahre, dass sie auch erst seit ein paar Tagen in Nicaragua ist. Sie kommt vom Norden und will danach nach Costa Rica. Ich erzähle von meinen Plänen, mir die Karibikküste anzuschauen und sie ist gleich ganz Ohr. Ich denke mir, das könnte ein potenzieller Reisepartner werden, mit den Engländerinnen hatte ich schon zweimal super Erfahrungen – und ich behalte recht: wir wollen das kleine Abenteuer gemeinsam wagen. Zwei Tage chillen wir gemeinsam am Strand. Bier, gemeinsam essen und gute Gespräche.Dann macht sie sich auf zurück nach Leon, ich folge einen Tag später. Rebecca (Becs) ist 27, hat einen Bruder, kommt aus der Nähe von Brighton, lebte drei Jahre in Cambodia und ist jetzt auf sechsmonatiger Reise, hat vor vier Jahren 30 kg abgenommen. Sie weiß noch nicht, was sie genau mit ihrem Leben machen will, aber definitiv viel reisen, keine Kinder.
Der Strand tut gut wie immer, ich fühle mich gut mit der gebräunten Haut. Ich kommuniziere jeden Tag mit Sherry – so bleiben wir uns näher. Sie scheint sich voll in die Arbeit zu stürzen, sowohl in der Küche als auch zu Hause.Am Montag fahre ich also zurück nach Leon und erledige ein paar Dinge wie SIM-Card fürs Handy kaufen und Wäsche waschen. Dann treffe ich mich mit Becs, um die Weiterreise zu planen. Wir trinken Bier auf einer Dachterrasse und bekommen plötzlich ganz ungefragt ein zweites Getränk serviert – von dem Herrn an einem anderen Tisch, lässt uns die Bedienung wissen. Wir rechnen damit, dass er gleich rüber kommt um mit uns zu reden. Doch dann steht er auf, nickt uns nur ganz cool zu und geht. Wow! Kostenloser Drink und wir müssen nicht mal mit ihm sprechen.Am Morgen beginnt dann unsere lange Reise Richtung Osten: local bus zum Terminal, Bus nach Managua, Taxi zum nächsten Terminal, Ankunft dort gegen 4 Uhr nachmittag mit anschließender Wartezeit von fünf Stunden bis der Nachtbus nach Bluefields startet. Kein Wunder, dass nur wenige Backpacker dieses Unternehmen wagen.
Hier treffen wir auf Ali and Andy aus England. Mein erster Eindruck: Langzeitreisende, sehr spartanisch unterwegs, er etwas reserviert, sie sehr offen und kommunikativ. Die beiden vertreiben sich die Zeit mit Karten spielen und rauchen. Ich erfahre: Andy ist Biowissenschaftler, arbeitet für eine Weile und dann reisen sie für 6 bis 24 Monate, und so geht das seit 30 Jahren. Die aktuelle Reise ist auf zwei Jahre angelegt. Später mehr zu den beiden.
Warten am Terminal und Pause in der Nacht
Außerdem machen wir die Bekanntschaft mit Rob und Partnerin (der Name ist mir entfallen), auch aus England, sympathisches junges Paar, 6 Monate Reise. Zu sechst verbringen wir die nächsten 24 Stunden, beginnend mit der ungemütlichsten Busfahrt, die ich je erlebt habe: Becs und ich bekommen die übelsten Sitzplätze ganz hinten im Bus zugewiesen: eine harte, mit Leder überzogene Holzbank. Auf der Straße mit unzähligen Schlaglöchern und null Stoßdämpfern im Bus ist Schlaf kaum möglich. Ankunft in Bluefields gegen 5 Uhr morgens, warten auf die Fähre bis 9 Uhr, dann auf dieser sechs Stunden bis zur Insel; wieder kaum Schlaf und es ist heiß. Aber die Fahrt ist ruhig, wir hatten viel gelesen über die raue Überfahrt und viel Kotzerei, doch all das bleibt uns erspart.15:30Uhr Ankunft auf Big Corn Island.
Becs und ich haben für die erste Nacht online ein Zimmer reserviert, Leonardo, der Vermieter, holt uns ab. Ali und Andy schließen sich uns an. Unsere Zimmer sind sehr einfach, aber sauber und schließen an das bescheidene Heim der Familie an. Wir legen ab, fühlen uns alle ziemlich schmutzig – gehen aber einstimmig erst mal ein Bier trinken und tauschen Reisestories aus. Dann duschen und zusammen Abendessen im Comedor – eine Art Restaurant aus Wellblech zusammengeschustert. Am nächsten Tag erkunden wir nach dem Frühstück, bestehend aus Reis und Bohnen, Brot, Tomaten und Ei (für mich ohne), die Insel.Der schönste Strand ist ganz in der Nähe, mit Becs nehme ich ein Taxi um den Norden der Insel zu sehen. Alles ziemlich ruhig hier, die Nebensaison hat gerade begonnen.Am zweiten Abend kochen wir Reis mit Currygemüse und spielen Karten mit Ali und Andy.
Mehr gibt es hier nicht zu sehen und so begeben wir uns am Freitag per Speedboot nach Little Corn, unserem eigentlichen Ziel.
Bereit für die kleine Insel: neben mir Ali, Andy und Becs
Hier gibt es keine motorisierten Fahrzeuge, dementsprechend alles seht idyllisch, saftig grün und friedlich. Becs und ich haben zwei Nächte im Osten der Insel gebucht. Sehr einfach die Unterkunft, Küche kaum brauchbar. Also essen wir auswärts und wechseln am Sonntag ins Hostel zu Ali und Andy. Andy schlägt für uns außerdem einen super Deal raus, somit zahlen wir gerade mal $10 fürs Doppelzimmer pro Nacht. Hier zeigt sich mal wieder, dass die neue Art des Backpackers, alles im voraus zu reservieren zwar sicher, aber nicht unbedingt besser ist.
Mangobäume sind hier so normal wie Apfelbäume in Deutschland
Wir verbringen die Tage hier mit Strand, lesen, Karten spielen und vielen Unterhaltungen. Ich höre Ali and Andy gerne zu. Seit über 30 Jahren reisen sie auf diese Art. Sie arbeiten zwei Jahre und dann geht’s wieder los. Folglich waren sie schon in vielen Ecken der Welt, reisen spartanisch und sind nach wie vor neugierig, Indien hat es ihnen besonders angetan. Ali ist überaus liebevoll, fürsorglich, offenherzig. Die beiden geben ein sehr harmonisches Team ab. Andy ist immer auf der Suche nach dem günstigsten Schnäppchen für Unterkunft, Bier und Rum. Wenn die beiden erzählen, geben sie sich gegenseitig das Wort in die Hand. Seine Stimme ist laut, durchdringend und etwas kratzig, funkelnde Augen, herzhaftes Lachen. Beide haben etwas sehr Entspanntes, keine Kinder (einer ihrer Tipps für eine langjährige gute Beziehung), sie hat die engere Verbindung zu ihrer Familie. Die beiden wissen noch nicht, wie sie ihre Rente bekommen, sehen der Zukunft aber entspannt entgegen.Unser Eindruck von den Inseln: Die Menschen auf dieser Seite des Landes sind freundlicher, das Aussehen karibischer, lockige Haare und helle Augen. Gesprochen wird kreolisches Englisch, was gewöhnungsbedürftig aber sympathisch ist, viele Gerichte werden mit Kokosnuss zubereitet, die kleine Insel ist sehr sauber, nur zweimal die Woche geht die Fähre zum Festland, viele Straßenhunde, die mitunter auch mal zubeissen, Tauchen und Schnorcheln sind die gängigen angebotenen Aktivitäten.Die Sonne tut extrem gut. Gebräunt fühlt man sich einfach viel besser und sieht auch besser aus. Ich vermisse Sherry, weiß jedoch nach wie vor nicht, wie es weitergehen soll. Vielleicht muss ich wirklich eine Lösung finden, die mich regelmäßig länger reisen lässt. Ich sollte eine Liste machen: Was brauche ich, was will ich, auf was kann ich verzichten, wo fühle ich mich wohl und ausgelastet, wo soll meine Basis sein. Wir verbringen die letzten Tage hauptsächlich mit Strand und lesen – vier Personen nebeneinander am Strand, alle am Lesen mit Buch – auch kein gewöhnlicher Anblick heutzutage.Auf einem gemeinsamen Schnorchelausflug mit anderen Gästen des Hostels sehen wir eine Wasserschildkröte, Rochen, kleine Haie, Hummer und viele leuchtend bunte Fische.Es läuft sehr entspannt zwischen uns vieren. Becs ist total goldig, ihr fällt es schwer jegliche Art von Geschenk anzunehmen, egal ob Essen, Sonnencreme etc., sie ist ein kleiner Tollpatsch, was mich an meine Schwester Anne erinnert. Es fühlt sich ein wenig an, wie mit ihr zu reisen, was schön ist. Sie ist lustig, kann über sich selbst lachen, hofft noch auf ein paar Liebschaften in den letzten Wochen ihrer Reise. Sommersprossen, verlegt gerne Dinge, mag wie ich keine brazil nuts, Lieblingszahl 7.Wir freunden uns mit der Schwester des Hostelbesitzers an und sie kocht mit uns an einem Abend das traditionelle Gericht Rondon, bestehend aus Kartoffeln, Yam, Kochbananen und Fisch. Wir sind überrascht von dem intensiven leckeren Geschmack. Eine besondere Erfahrung, denn die Milch der Kokosnuss kommt nicht aus der Dose – wir durchlaufen den natürlichen Herstellungsprozess: Nuss aufhacken, Fleisch entnehmen, raspeln, in Wasser einweichen und Milch rauspressen. Wir lernen: die erste Pressung ist die beste, bis zu dreimal geht, die Raspel werden anschließend an die Hühner verfüttert.
Nach einer Woche verlassen wir die Insel, die Rückreise zum Festland wird etwas entspannter, da wir eine Nacht in Bluefields bleiben.
Stop in Bluefields
Dann die Busfahrt zurück, welche wir aber bei Tag unternehmen, es gibt viel zu sehen und wir stellen sicher, dass wir nicht auf den Kacksitzen landen. Ali und Andy begleiten uns nach Granada, obwohl sie schon dort waren. Sie wollen Vorräte auffüllen (Zigaretten, Rum etc.) Ich überlege, mit den beiden weiter nach Ometepe zu reisen, denn ich genieße ihre Gesellschaft.
So fühle ich mich gerade richtig wohl mit dem Leben zurück als Langzeitreisende und bezweifle, dass ich komplett zurück in feste Strukturen will. Ali und Andy sind inspirierend und in meinem Hinterkopf spüre ich es arbeiten, wie ich das zufriedenstellend hinbekommen könnte. Alle drei Jahre Sabbatjahr? Wirklich zurück ins Lehrerleben? Die vegane Nummer pushen? Was komplett Neues? Dass Sherry und ich gerade so lange getrennt sind, lässt mich nachdenken: unsere Beziehung ist genährt und gewachsen durch physische Nähe. Auf Dauer immer wieder länger getrennt zu sein, kann das funktionieren? Oder ist das genau, was ich brauche, damit es hält? Ich kann definitiv sagen, dass ich mit ihr die bisher beste und gesündeste Beziehung habe: frei und mit viel Lachen, Aufmerksamkeit, Verständnis, liebevoll, lebendig, Überraschungen und mehr.
Der Mai neigt sich langsam dem Ende. Wir bleiben gemeinsam übers Wochenende in Granada: schöne bunte Stadt, Kirchen, Restaurants und Cafés, Markt und großer Supermarkt.Der See ist ziemlich unspektakulär.Am Sonntag regnet es nonstop und wir sitzen im Hostel fest (wollten eigentlich zur Laguna de apoyo). Becs will noch länger hier in der Partystadt bleiben und so ist es Zeit Abschied zu nehmen – wann wir uns wohl wiedersehen? Mit Ali und Andy ziehe ich weiter nach Ometepe, die Insel mit zwei Vulkanen.Auch hier entkommen wir dem Regen nicht. Einen Vulkan zu besteigen macht da wenig Sinn. Wir machen also kurze Spaziergänge, gehen abends im lokalen Comedor essen und zahlen zusammen nicht mal $7 für leckeres traditionelles Essen: Tamales, Eier, Gallo Pinto (Reis und Bohnen) und Salat.Unser Hostel gefällt uns sehr: viel Farbe, verschiedene Ebenen, viele Naturmaterialien verarbeitet, Malereien an den Wänden, geräumige Küche, Billardtisch, viele Rückzugsmöglichkeiten.Ich lerne Ali and Andy immer besser kennen. Ali ist definitiv die Sensible. Sie liebt es die Geschichten anderer Menschen zu hören, ist neugierig und stellt sich dieselben Fragen über Menschen, denen sie begegnet, wie ich selbst. Die beiden sind super gechillt und schwer aufzuregen. Andy wirkte zu Anfang etwas schroff, geht aber sehr respektvoll mit anderen um und erklärt gerne, nimmt sich dabei Zeit, ist wissbegierig und spielt überragend Billard. Die beiden geben sich das Wort in die Hand, wenn sie ihre Geschichten erzählen, wirken sehr harmonisch miteinander und sind ein schönes Beispiel, dass man diese Art zu leben sehr wohl über Jahrzehnte aufrecht erhalten kann. Es ist spannend, wie sie ihr Reisen möglich machen und sie teilen all diese Erlebnisse miteinander.
Mit Sherry spreche ich zweimal die Woche, ansonst texten wir, aber nicht wirklich oft oder viel. Über einen Monat bin ich nun schon unterwegs. Ich vermisse sie, genieße aber gleichzeitig das Reisen. Das Schöne ist, dass sie mich komplett versteht, mich natürlich vermisst aber sich gleichzeitig für mich freut, dass ich mache, was ich liebe.
Hier ist es so verregnet, dass ich die Schnauze voll habe und kurzerhand meine Pläne ändere. Ganz Zentralamerika erlebt gerade Stürme und ungewöhnlich viel Regen. Mir bleiben nicht mehr viel Zeit, bis ich wieder nach Halifax gehe und ich hab genug vom Nass. Also buche ich (vielleicht überstürzt) einen Flug nach Cancun um von dort auf die Insel Holbox zu gelangen. Becs schwärmt von dem idyllischen Ort, zuverlässig Sonnenschein, whale Shark season, kitesurfing, keine Autos, biolumineszierendes Wasser und mehr. Nicht ganz billig dort, aber ich freue mich drauf. Zudem war ich von Anfang an nicht wirklich scharf auf das touristische Costa Rica.
Bei Dauerregen sitzen wir zu dritt im Hostel: Ali am Tagebuch schreiben, Andy am Laptop und ich an meinen Notizen. Unsere dritte 1Liter-Bierflasche ist leer und wir versuchen jeder für sich voranzukommen. Gleichzeitig tauschen uns aus übers Reisen, wie uns das verändert hat und über Menschen, die wir zusammen kennen gelernt haben.
Dann lässt der Regen nach, Becs stößt zu uns und es gibt ein schönes Wiedersehen. Ich zweifle meine Entscheidung an, nach Mexiko zu fliegen – diese Unentschlossenheit, die sich über viele Monate eingeschlichen hat, macht mich langsam wahnsinnig; zu späterem Zeitpunkt mehr hierzu.Nun heißt es endgültig Abschied nehmen von Becs.
Mit Ali und Andy überquere ich via Bus die Grenze nach San José in Costa Rica, nur ein Zwischenstopp für uns drei. Im Hostel angekommen, nehmen Ali und ich an der walking tour teil, Andy liegt mit Erkältung im Bett.Auf dem Rückweg vergessen wir für mich die Buszeiten zu checken, so dass ich noch mal alleine losgehe, zehn Minuten zu Fuß. Auf dem Rückweg, nur 200 Meter vom Hostel, rennt plötzlich ein Typ auf mich zu, greift mich am Hals, reißt meine Kette ab und rennt weiter… Das Ganze passiert innerhalb von zehn Sekunden, ohne einen Laut. Ungläubig und im Schock blicke ich mich um und laufe weiter. Ein Mann läuft wenige Meter hinter mir und reagiert nicht. Zurück im Hostel breche ich in Tränen aus, ärgere mich über mich selbst, die Kette überhaupt mit auf Reisen genommen zu haben (ein Geschenk von Sherry), hätte ich besser wissen sollen. Andererseits wäre ich am nächsten Morgen alleine zum Busbahnhof gelaufen. Wer weiß, was da vielleicht passiert wäre. Ali nimmt mich sofort in den Arm als ich den beiden erzähle, was passiert ist und sie kümmern sich rührend um mich. Es dauert mehrere Tage bis ich den Schock komplett loswerde.
Abends treffe ich mich mit Aurora, unsere Wege kreuzten sich vor zwei Jahren in Buenos Aires. Sie führt mich aus in ein Viertel mit stylischen Bars.Tut gut abgelenkt zu sein und ich bereue ein bisschen, jetzt doch nicht hier zu bleiben, zweifle meine Entscheidung wieder an, ich bin vollkommen durch den Wind. Sie sagt, ich soll doch da bleiben, kann bei ihr unterkommen und übers Wochenende würden wir dann zusammen an den Strand. Letztendlich bleibe ich bei meiner Entscheidung, abzureisen.
Aurora ist Dozentin an einer Uni für Business English. Wir haben viel gemeinsam, sie macht sich viele Gedanken wie ihr Leben weitergehen soll. Mit den Männern klappt es nicht, manchmal verzweifelt sie an der Unentschlossenheit der Männer. Sie hat hohe Ansprüche, will einen gebildeten Mann, gefühlvoll und Spaß, gibt meinem Empfinden nach zuviel auf einen Titel. Folglich konzentriert sie sich auf sich selbst ohne die Erwartung, dass sich etwas ergibt. Sie sucht eine berufliche Herausforderung und zieht möglicherweise nach London für ihren PhD.
Ankunft in Cancun. Es ist heiß und sonnig – schon mal gut. Ich gehe zum selben Hostel wie letztes Mal – hat sich verändert, mehr Party, nicht mehr so neu, fühlt sich nicht mehr genauso an. Mein rastloses Gefühl ist zurück. Mit drei Leuten gehe ich was essen, der eine Typ quatscht am laufenden Band. Ich brauche Ruhe, bin übermüdet und will hier weg. Ich verdrücke mich aufs Zimmer und werfe einen Blick auf den Kalender. Noch 12 Tage hier, erscheint mir gerade ewig. Im August will ich nach Deutschland, davor noch möglichst viel Zeit mit Sherry und in Halifax mit Freunden verbringen, etwas Geld verdienen. Die Zeit ist begrenzt, irgendwo muss ich kürzen, glaube im Moment besser zu Hause in Halifax bei ihr aufgehoben zu sein, dort gibt es mehr für mich zu tun. Der Schock sitzt mir noch in den Knochen. Ich bin innerhalb der 24 Stunden Frist um den Flug zu canceln und buche um. Neuer Termin ist in vier Tagen. Ich checke am Morgen aus und begebe mich auf direktem Weg Richtung Insel Holbox, meine eigentliche Motivation überhaupt diesen irrationalen Flug nach Mexiko gebucht zu haben. Sobald ich mich auf dem Weg zur Insel befinde, wird mein Kopf ruhiger, immerhin gibt es jetzt kein hin und her überlegen mehr.Und die Insel tut gut: viel viel Sonne, Natur, Sonnenuntergänge, klarer Sternenhimmel, eine Kajaktour, es ist wunderschön bunt hier, Spaziergänge am Strand und ein neues Tattoo. Die Gelegenheit mit dem Tätowierer im Hostel war zu gut. Und nachdem mir meine Kette genommen wurde, ein guter Ersatz. Das Hostel bekommt übrigens einen Platz in meiner top ten Liste, hier müssen Reisende mit Erfahrung am Werk gewesen sein.
Hostel Tribu
Mein Eindruck von Holbox: gutes Reiseziel um den Trubel zu entkommen, bunt, heiß, gutes Essen, gesellig, viele Cafés und Bars, gechillt, überall Sand.
Blick von der Dachterrasse des Hostels
Viele Aktivitäten vor Ort: whalesharks, Flamingos, leuchtendes Wasser, Kitesurfen, persönlich aber kein Ort, wo ich leben könnte.Ich brauche Kultur, Nähe zur Stadt, mein Leute, meine Familie – immer wieder komme ich zu demselben Schluss. Bin ich jetzt nach dem Reisen schlauer als vorher? Ja und nein. Die Beziehung zu Sherry ist mir unglaublich wichtig. Doch wie soll es nach dem Sommer weitergehen? Für uns, für mich, mit dem Reisen, mit der Arbeit.
Bei meinem Zwischenstopp am Flughafen in Chicago erlebe ich dann noch eine riesige Überraschung: ich schlendere zum Gate, von dem mein Weiterflug geht, setze mich und denke im nächsten Moment: die Stimme, die da spricht, kenne ich doch! Ich blicke auf und sehe meinen Cousin Bernd drei Meter entfernt stehen – mit seiner Körpergröße unverkennbar. Unsere Familien sind eng verbunden und wir haben in unserer Kindheit viel Zeit miteinander verbracht. In meinem Gesicht macht sich ein Grinsen breit, ich rufe durch den Raum: „Heah, was machschn du hier?“ Er dreht sich um und ist genauso baff wie ich. Was eine schöne Begegnung.Wesentlich beschwingter verläuft der Rest der Reise und wenige Stunden später lande ich in Halifax.
Zurück aus Florida nehmen wir allerlei Veränderungen am Haus vor: verschiedene Töne von Weiß an den Wänden über die Küche bis hin zur Treppe vertreiben das Dunkel im Haus, ein neues Waschbecken im Bad, farbenfrohe Accessoires. Sherry bindet mich in jegliche Entscheidungen ein, damit auch ich mich zuhause fühle. Nach vielen Arbeitsstunden sind wir hochzufrieden mit dem Ergebnis.
Vorher und mittendrin
Nachher
Vorher – Nachher
In unserem gemeinsamen Alltag ist Sherry nach wie vor voller Überraschungen, bringt mich täglich zum Lachen und ist erfrischend spontan.
Nach den letzten Monaten mit viel Heimweh und Fragen, wie es nun weitergeht, treffe ich endlich ein paar Entscheidungen, die zumindest die nächsten Monate betreffen. Die Woche in der Sonne hat gut getan, konnte aber meine schwermütige Stimmung nicht wirklich vertreiben und so bin ich allein schon für mich selbst unerträglich – es ist an der Zeit, etwas zu unternehmen.
Die Gefühle für Sherry werden von Tag zu Tag stabiler, tiefer, bedingungsloser, ohne einen Gedanken auf ein mögliches Ende. Mit ihr fühle ich mich genauso frei wie zuvor. Natürlich will sie mich gern bei sich haben, betont aber immer wieder, dass ich tun muss, was für mich gut ist. Das Wir-Gefühl mit ihr wird stärker. Sprechen über Gefühle ist nach wie vor schwierig für mich und verursacht bei ihr regelmäßig Frustration, die sie jedoch mit viel Geduld händelt.
Ostern auf dem Wochenmarkt
When you say something out loud it becomes a reality that you can’t deny or take back again.
Tatsächlich sprechen wir aber darüber, wie und vor allem wo es mit uns beiden weitergehen könnte. Ich bin da selbst nicht klar und habe das Bedürfnis, mich eine Weile zurückzuziehen, zu reflektieren, zu fühlen – und mal wieder zu reisen wie ich es gewohnt bin. Ich entscheide mich für Nicaragua, so kann ich zudem mein Spanisch mal wieder auffrischen. Eine ungefähre Idee habe ich, wann ich zurück sein will, lasse den genauen Zeitpunkt jedoch offen. Plan ist, danach den Sommer hier in Halifax ein wenig zu genießen und den Rest der warmen Jahreszeit in Deutschland zu verbringen. Einer meiner Cousins heiratet Ende August, das will ich nicht verpassen, die ganze Großfamilie trifft sich dort. Sherry würde dann für eine Weile dazustoßen.
Und so packe ich ein weiteres Mal meinen Rucksack. In Nicaragua ist nur das Hostel für die erste Nacht geplant, der Rest wird sich ergeben.
Ich weiß nicht, was ich tun soll
und ich weiß nicht, wohin.
Ich hab vergessen, wer ich sein will
und vergessen, wer ich bin.
Ich renn schon so ne Weile
durch die Gegend ohne Ziel –
Es wär so leicht, mich zu entscheiden,
wenn ich wüsste, was ich will.
Sherry’s Vater Fred überwintert seit einigen Jahren immer in Florida, um dem kalten Wetter in Nova Scotia zu entkommen. Sherry und er haben ein gutes Verhältnis und die beiden stehen in regem Kontakt: wenn sie sich nicht gerade bei der Arbeit über den Weg laufen (die Küche befindet sich im selben Gebäude wie seine Büroräume und die ihres Bruders direkt am Binnenkanal), telefonieren sie regelmäßig. Außerdem versorgt sie ihn mit Essen, das er immer mit leuchtenden Augen entgegen nimmt.
Nachdem er von unseren Plänen hört, in die Sonne zu fliegen, schlägt er vor, ihn in Florida zu besuchen. Bei dieser Einladung verwerfen wir ohne überlegen fürs erste unsere vorherigen Ideen, innerhalb einer Woche sind unsere Tickets gebucht und wir verabschieden uns für acht Tage vom Winter.
Orlando ist nicht der näheste Flughafen, doch Fred besteht darauf, dass wir direkt fliegen und holt uns in seinem Bentley vom Flughafen ab. Ca zwei Stunden dauert die Fahrt nach Jupiter. Er wohnt hier in einer sogenannten gated community – eine bewachte Anlage mit mehreren Golfplätzen. Alles sehr nobel, weitläufig, überall schicke Autos, Golfcarts. Sein Haus liegt direkt am Binnenkanal (intercostal).
Mir verschlägt es die Sprache, als er uns im Haus herum führt. Marmorböden, riesiger Wohnbereich, alles verglast, die Fenster sind kugelsicher (das wurde ihm vom Fensterbauer vorgeführt) und halten auch einem Hurricane stand – ein riesiger Pool mit knapp siebzehn Metern, Yamaha Klavier im Wohnbereich (man wollte mal Klavier spielen lernen). Es gibt ein Gästehaus, das wir ganz für uns haben könnten, doch wir wählen das Gästezimmer im Haupthaus, da die Klima hier nicht so kalt wird. Die Dimension des Wohlstands übersteigt meine Vorstellungskraft.
Da Fred meist mit dem Auto anreist, haben wir sein Cabrio aus Halifax für uns während wir hier sind. Ausgestattet mit Empfehlungen für die Gegend von ihm und Sherry’s Schwägerin starten wir in die Woche:
Montag: Fred zeigt uns seinen bevorzugten Gourmet – Supermarkt mit Frischetheke für alles: von Vorspeisen über unzählige Hauptgerichte und Beilagen bis hin zur Kuchentheke werden keine Wünsche offen gelassen – gekocht wird dementsprechend kaum und die noble Küche zuhause wird quasi nie genutzt.
Dienstag: wir suchen einen Strand in der Nähe auf und entdecken auf dem Rückweg eine einladende Beachbar: Guanabanas
Mittwoch: Miami – auf dem Weg dorthin bin ich ziemlich launisch. Einer dieser Tage, in denen ich in dieser Stimmung aufwache (und das trotz Sonne und Strand). Ich bekomme meine Laune allerdings in den Griff, rechtzeitig bevor wir in Miami ankommen. Bei meiner Recherche am Abend vorher habe ich drei interessante Stadtviertel rausgesucht und mit dem Auto sparen wir Zeit, um von A nach B zu gelangen. Wir starten am South Park Beach.
Frühstück an einer Sandwich Bar, die eigentlich nur gut sein kann bei dem Andrang. Unser Sandwich enttäuscht nicht, gestärkt geht’s weiter.
Bayside Spaziergang. Dort stolpern wir über einen Harley Store, und das ausnahmsweise ganz ohne dass Sherry danach gesucht hätte.
Ein ungewöhnliches öffentliches Transportmittel fällt mir hier auf: der Metromover: völlig kostenlos, fast wie eine Art Schwebebahn über den Straßen, alles automatisiert, also kein Fahrer. Gefällt mir.
Wynwood präsentiert sich bunt und supercool mit leuchtenden Graffiti an den Wänden, schicke Bars, stylish, erinnert mich an ein Viertel in New York. Hier legen wir eine Pause für ein Bier ein.
Little Havana: wir finden die Straße mit all den kubanischen Restaurants und Bars, wählen eine Taco Bar und verspeisen mega leckere Tacos und einen Burrito. Der Tag neigt sich dem Ende.
Auf dem Heimweg fährt Sherry über Hollywood. Dort hat sie mit Anfang zwanzig mal mit ihrem ersten Mann gelebt. Muss ein seltsames Gefühl für sie gewesen sein nach all den Jahren wieder hier durch zu fahren.
Donnerstag: Tag am Pool und abends führt uns Fred zum Essen aus im Golfclub. Jeder scheint ihn hier zu kennen. „Good evening, Mister Smithers. How are you, Mr Smithers?“
Freitag: wir checken den Secondhand Store aus, von dem Fred erzählt hat. Hier landen überwiegend Designerstücke – Kleider, die wir uns zum Originalpreis niemals leisten könnten, hier aber zu echten Schnäppchen angeboten werden. Die beiden Damen, die hier arbeiten, erinnern mich an die Verkäuferinnen im Film ‚Pretty Woman‘ – nur mit dem Unterschied, dass sie sehr nett und geschwätzig sind. Sherry’s Vater kennen sie, der kommt hier oft einkaufen. Er scheint sehr angesehen zu sein und ein Headturner (Hingucker) für die Frauen. Shoppen wollte ich ja eigentlich gar nicht, aber das ist doch zu verlockend hier. Danach geht’s zu einem Antikmöbelhaus ‚True Treasures‘ – hier richtet sich also die reiche Welt ein.
Anschließend das Breakers Hotel am Palm Beach. Sowas habe ich noch nicht gesehen – ein Hotel wie ein Schloss. Faszinierend und auf gewisse Art verstörend zugleich – zu viel Geld an einem Ort. Wir laufen durch die Gemächer, die für Besucher begehbar sind und fahren dann entlang am Strand, vorbei an all den Villen. Am Ende der Straße befindet sich Trump’s Anwesen, doch wir biegen vorher rechts ab, durch eine schicki-micki Einkaufsstraße und zurück Richtung Jupiter. Kohle wohin man nur blickt.
Breakers Hotel
Wir halten fürs Foto an diesem kleinen Café
Samstag: eine Runde paddleboarding, nochmal die Bar Guanabanas und zum Abschluss der Restauration Hardware Store – ein riesiges Möbelhaus – bei den Preisen schlackern einem allerdings die Ohren. Im Dachgeschoss befindet sich ein Restaurant, wo wir uns für eine Kleinigkeit (das Günstigste auf der Karte) niederlassen und people watching betreiben.
Sonntag: wir treffen eine Bekannte von Sherry und deren zwei Schwestern an einem Strand weiter nördlich: Jensen Beach auf Hutchington Island. Judy’s Schwester hat eine kleine Wohnung hier für den Winter – es gibt also auch weniger noble Modelle als Fred – und beide Schwestern sind zu Besuch auf Urlaub. Auf der Terrasse eines angesagten Restaurant an einem der vielen Bootshäfen lassen wir den Tag ausklingen.
Am letzten Abend führt uns Fred nochmal aus zu seinem Lieblingsitaliener. Er erzählt viel von früher: wie er als junger Mann für einen Dollar die Stunde arbeitete, die Familie durchbrachte und nach und nach immer erfolgreicher wurde, neue berufliche Herausforderungen annahm. Ich hake nach, wie er eigentlich Sherry’s Mama kennengelernt hat. Dabei kommen für sie bisher unbekannte Details zum Vorschein. Ich freue mich für sie, denn aus eigener Erfahrung weiß ich wie kostbar solche Geschichten sind.
Aufgetankt mit Sommersonne machen wir uns früh am nächsten Morgen auf zum Flughafen.
Vom ersten Moment an hier zurück tue ich mich richtig schwer. Viel Unmut, Traurigkeit, Zweifel, Heimweh und null Bock auf Küche.
Normalerweise zieht mich Sport immer aus der schlechten Laune, aber körperlich verausgaben, so wie ich das gerne hätte, funktioniert bei dem Wetter einfach nicht und zwei Mal die Woche Fitnessstudio reicht mir nicht. Als dann durch das viele Stehen noch Rückenschmerzen hinzukommen, ist meine Stimmung endgültig bei null. Sherry gibt ihr Bestes um mich aufzumuntern, was ihr auch immer wieder gelingt. Ich falle jedoch regelmäßig zurück in miese Stimmung. Eigentlich hatte sie gehofft, dass die Zeit in Deutschland mein Heimweh stillt, aber genau das Gegenteil ist der Fall.
Ich sehe nicht, wie wir unsere zwei Welten vereinen können, bin einsam, sie ist hier verwurzelt, ihre Arbeitswelt ist und bleibt hier und sie hat sich etwas aufgebaut, was man nicht so einfach aufgibt. Wahrscheinlich wäre sie sogar offen dafür, nach Deutschland zu kommen, aber ich bin mir sicher, dass die Heimat recht schnell rufen würde, so wie ich das gerade erlebe.
Wir müssen reden, haben viele Themen bisher nicht berührt. Wahrscheinlich, da wir beide wissen, dass es keine befriedigende Lösung gibt. Gegeben durch dieses persönliche Dilemma leidet meine Stimmung enorm, es schwingt immer etwas Trauriges mit und ich gehe mit schwerem Herzen durch die kommenden Wochen.
Nichtsdestotrotz tut Sherry mir gut, wächst mir immer mehr ans Herz, wir erleben viele schöne Momente gemeinsam. Ich mag ihre Sicht auf die Dinge, sie ist immer positiv, lässt sich nie entmutigen und findet für alles eine Lösung. Das Erlebnis der Beziehung mit Sherry ist neu. Ich fühle mich in meinem Sein durch sie nicht eingeschränkt, wir geben ein gutes Team ab, ergänzen uns, sind beide leicht im Umgang und flexibel.
An einem Samstag treffen wir uns mit Sherry’s Freunden und gehen Axt-werfen – eine spaßige Angelegenheit.
Nachdem Sherry entgültig entschieden hat, ihr Haus nicht zu verkaufen, nehmen wir uns als erstes ihr dunkelbraunes Bett zum Projekt für Veränderung: abschmirgeln, streichen und dann bekommt das gute Stück einen antiken Touch.
Dabei merke ich, wie es mir fehlt meine eigenen vier Wände einzurichten. Seit dreißig Monaten stelle ich mich auf andere Menschen und ihr Zuhause ein, schlafe in Hostels, bei Freunden, in Nachtbussen, eine Parkbank und ein Einmannzelt zu zweit war auch schon dabei. Ich weiß zwar noch nicht wirklich, wie es von hier aus weitergehen soll, aber der Gedanke, zurück nach Mannheim zu gehen, ist gerade verlockend – mich neu einrichten, eventuell sogar ein neuer Arbeitsplatz. Gleichzeitig habe ich Bammel vor der Routine nach all der Freiheit.
Eine schöne Abwechslung hier ist zur Zeit unsere gemeinsame Freundin Hatfield (eigentlich heißt sie auch Sherry, aber ich hab ihren Nachnamen zum Spitznamen gemacht). Nachdem sie und ihr Mann sich letztes Jahr getrennt haben, bot Sherry ihr an, bei uns zu wohnen bis sie im Februar in ihre neue Wohnung kann. Unsagbar dankbar nimmt sie das Angebot an und zieht kurz vor unserer Abreise nach Deutschland mit ein paar Taschen ein und hütet während unserer Abwesenheit Haus und Hunde. Jetzt zurück verbringen wir ein paar gemeinsame Wochen zu dritt und verstehen uns verdammt gut.
Wie jedes Jahr steht mein Geburtstag am 8.Februar an und präsentiert sich voller Überraschungen: Ich wusste ja, dass Sherry was im Schilde führt und am Abend vorher eröffnet sie mir, dass sie einen Kitesurf-Tag mit Privatlehrer für mich organisiert hat. Ich starre sie ungläubig an – bei dem Wetter? Null Grad und Regen. Sie: „Es gibt doch Neoprenthermoanzüge und du wolltest das doch schon immer hier ausprobieren nach deiner Erfahrung in Brasilien, bist doch gerne draußen.“ Meine Augenbraue zieht sich misstrauisch nach oben, doch je länger sie spricht, desto überzeugender wird sie. Sie zieht alle Register, ich traue mich nicht, mich zu beschweren über das Geschenk und beginne, mich geistig auf den nächsten Tag vorzubereiten. Ich packe also am Morgen meine Tasche, sie macht Geburtstagsfrühstück – veganen French Toast.
Als wir das Haus verlassen, zieht sie ganz demonstrativ ihre Regenjacke an – braucht sie, wenn sie Bilder von mir macht. Hmm… Jaja, schon klar, nicht witzig. Das Wetter ist garstig! Wir halten am Coffeeshop, um etwas Warmes dabei zu haben. Dann zückt sie einen Umschlag und meint, sie hätte vergessen, mir noch was zu geben. Ich öffne verwundert und finde einen Gutschein für das Wellness Spa nebenan. Mehrere Stunden Wellness – von wegen Kitesurfen. Sie lacht, ich schüttel sie – und ich hab ihr den Quatsch auch noch abgekauft! Sie muss jetzt in die Küche, Catering vorbereiten und holt mich später ab. Mit einem Kuss verabschiede ich mich und steige kopfschüttelnd aus.
Für den Abend hat sie einen Tisch im Restaurant Five Fishermen reserviert. Als ich frage, wie schick wir denn ausgehen und ob ich mein gewohntes Outfit tragen soll (nach wie vor habe ich hier nicht viele Klamotten und Schickes schon gar nicht), nimmt sie mich bei der Hand und führt mich ins Schlafzimmer. Auf dem Bett liegt ein komplett neues Outfit, dass sie mir besorgt hat, was auch noch wie angegossen passt. Wir erleben Service vom feinsten, mit Prosecco aufs Haus, veganer Speisekarte, vorzügliches Essen, bekommen zwei Rosen, Dessert und Geburtstagskarte.
Am Samstag darauf ist Markt wie immer und ich gehe davon aus, dass wir danach Pizza essen gehen wie immer. Wir müssen nur kurz nach Hause wegen des Catering Jobs – das Essen wird zu Hause abgeholt, sagt sie. Ich gehe die Stufen zur Haustür voraus, schließe auf und bleibe verdutzt in der Türe stehen: überall Luftballons! Dann höre ich jemanden sagen: „Happy Birthday!“ und sehe Sherry’s Bruder Travis und Frau Diane, Cousine Brenda und Frau Simone, Hatfield – alle stehen sie da und grinsen mich an, alles ist dekoriert. Hat Sherry doch echt eine Party für mich organisiert und ich hatte keinen Schimmer!
Sherry’s Mutter Beverly kommt mit Mike, Freunde Scott und Todd, es gibt eine vegane Geburtstagstorte. In meinem Leben war ich noch selten so baff und noch nie hat jemand so etwas für mich gemacht. Alle haben Geschenke dabei und sind super herzig. Ich bin sehr gerührt. Die letzten Gäste bleiben bis spät in den Abend.
Nach der Party verbringen wir den Sonntag sehr gemütlich zuhause. Ich bin irgendwie immer noch verblüfft, wie sie das alles gemacht hat und sich vor allem so ins Zeug gelegt hat, um mir diese Freude zu bereiten.
Am Donnerstag drauf steht Valentinstag an. Das war ja noch nie mein Fall, wird bei uns im Deutschland eh nicht so wichtig genommen und auch nicht so gehypt wie hier in Nordamerika. Für meine Familie ist es zudem einfach Mamas Geburtstag. Sherry ist ganz erstaunt, dass ich noch nie einen Valentinstag mit allem Drum und Dran erlebt habe und meint deshalb erst, ok dann machen wir nichts – „Let’s do it the German way“.
Letztendlich einigen wir uns allerdings, schick essen zu gehen. Ich fühle mich außerdem dann doch herausgefordert, ihr eine Aufmerksamkeit zu machen. Also besorge ich ihr eine Kleinigkeit und verstecke am Abend vorher Herzen in ihren Stiefeln, in der Sichtblende im Auto, dann in der Küche und habe jedes Mal einen Heidenspaß dabei, wenn sie welche entdeckt. Sie überrascht mich mittags mit Blumen.
Für den Abend haben wir eine Reservierung im Ostrich Club, ein relativ neues Restaurant und Bar hier im Hydrostone-Viertel. Als wir uns fertig machen, hat sie das Bett dekoriert mit Rosenblättern und eine Tüte von LaSensa steht da für mich – feine Unterwäsche. Ich wähle ein Stück, ziehe mich an, Sherry trägt zum ersten Mal seit Jahren ein Kleid. Wir lassen uns ein Fünf-Gänge-Menü kredenzen, heute spielt Geld keine Rolle.
Ostrich Club: food and wine pairing
Zurück zu meinem Gemüt: Abgesehen von den Hoch-Momenten ist meine Stimmung schlechter denn je, geht fast schon ins Depressive. Ich wache oft mit schwerem Herzen aus, es fehlt ein tieferer Sinn in meiner Arbeit, nach wie vor das Heimweh und die Leere, die entstanden ist, da ich mich nach all den Menschen sehne, die mir vertraut sind, die mich zum Lachen bringen, mit denen ich mich jederzeit treffen konnte. Mitte März ist die Sonne zwar schon wieder stärker, aber in der Kälte weicht der Schnee nicht so schnell.
Erstes Sonnen Mitte März auf dem Deck
Ich bin nicht ausgelastet, schlafe schlecht. Eigentlich also eine glasklare Sache: ab nach Hause. Mein Bruder Baldi würde fragen, auf was wartest du noch? Sogar Sherry sagt, sie kann sich das nicht mehr mit ansehen, ich soll doch einen Flug nach Hause buchen. Klar hätte sie mich lieber bei sich, aber „du musst tun, was für dich gut ist!“
Mit ihr ist es mittlerweile so eng geworden, dass ich nicht einfach meine Sachen packen kann und gehen. Sie hat sich getraut und die drei Worte gesagt. Ich kann es nach wie vor nicht, hab generell aus verschiedenen Gründen meine Schwierigkeiten, über Gefühle zu sprechen. Zudem bin mir nicht sicher, was ich genau fühle oder ob ich mich einfach nicht traue, dieses Zugeständnis zu machen.
In der Tiefe unseres Herzens wissen wir immer die Antwort auf die wichtigen Fragen. Doch haben wir den Mut, sie zu hören?
Ganz klar empfinde ich Liebe für sie, aber diese Worte so auszusprechen, ist nochmal ne andere Nummer. Wir beide wollen die Beziehung nicht beenden, doch ich kann das auf Dauer so nicht, will inmitten von Familie und Freunden leben. Sherry versteht und hat wie immer Lösungsvorschläge. Sie ist sich bewusst, dass ich Freiraum brauche, schlägt vor, mich erst mal alle paar Monate zu besuchen. Meine Laune ist auf jeden Fall so nicht mehr lange tragbar, weder für sie, noch für mich oder uns beide. Ich kann mich so nicht ausstehen, kenne mich so gar nicht und bin so auch eigentlich nicht. Inzwischen ist für mich zumindest klar benennbar, was ich brauche, um fröhlich und ausgeglichen zu sein. Die Tage in Halifax scheinen gezählt, jetzt geht es darum, wann ich genau aufbreche, ob ich erst ein bisschen reisen gehe, bevor ich den Sommer zu Hause verbringe. Immerhin bin ich noch über ein Jahr freigestellt. Ein paar Monate reisen sollte ich einplanen um die Zeit voll auszukosten. Sherry ist offen dafür sich anzupassen, was auch immer ich entscheide.
An einem Morgen im März
Wir überlegen, gemeinsam eine Woche ins Warme zu reisen, denn der Winter kann sich hier bis in den Mai ausdehnen. Ich würde von dort aus, wahrscheinlich irgendwo in Mittelamerika, weiterziehen. Da meldet sich ihr Papa…
Schon lange hab ich mich nicht so auf zuhause gefreut wie heute. Mehrere Listen habe ich über die letzten Wochen angelegt: was will ich Sherry zeigen, was muss sie auf jeden Fall sehen und erleben, Freunde, die ich treffen will, Bürokratisches, was erledigt werden muss. Die Listen sind lang und somit einige Tage durchgetaktet. Dabei mit den Freunden abzustimmen, wer wann Zeit hat, ist bei so begrenzter Zeit nicht ganz leicht.
Am Flughafen in Halifax läuft alles reibungslos und während wir auf unseren Abflug warten, stoßen wir mit einem Glas Wein auf den Beginn unserer gemeinsamen Reise an.
Zwölf Stunden später, 7:29 Uhr, Flughafen Frankfurt: Wir rollen unsere Koffer durch die automatischen Schiebetüren und ich erspähe meinen Bruder Baldi sofort unter den wartenden Menschen – er sieht gut aus! Wir fallen uns in die Arme – mein Herz springt, ich hab ihn vermisst. Ich stelle Sherry vor, die beiden haben sich schon ein paar Mal während unserer regelmäßigen Videotelefonate gesehen.
Unser Tag beginnt mit einem Brunch bei Freunden von Baldi in Mannheim: Gutes deutsches Frühstück mit lecker deutschem Brot, veganen Pfannkuchen, Obstsalat, Brotaufstrichen und mehr – nach der langen Reise perfekt. Baldis Freunde sind herzlich und aufgeschlossen, wir erzählen, essen, lernen uns ein bisschen kennen. Jeder bemüht sich, Englisch zu sprechen. Sherry schaut mich immer wieder amüsiert an, wieviel ich esse – bei dem Traum von Frühstück muss ich zuschlagen. Später erzählt sie ihren Freunden, wie erstaunt sie über das riesige Brunch war und die damit verbundene Geselligkeit – das kann sich oft schon mal ein paar Stunden ziehen.
Pappsatt geht es weiter zu unserem Bruder David und Frau Marina. Die beiden und ihre kleine Tochter Sansa zu sehen gibt mir sofort ein warmes Gefühl – genau das hat mir gefehlt. Nach einer kurzen Dusche machen wir uns alle gemeinsam auf nach Deidesheim in der Pfalz. Dort gibt es einen schönen Weihnachtsmarkt und heute ist der letzte Tag – ein deutscher Weihnachtsmarkt ist ein Muss auf der Sightseeing-Liste.
Weihnachtsmarkt Deidesheim
Bevor wir den eigentlichen Markt erreichen, machen wir Halt im Weingut Bassermann und Jordan, David braucht Wein. Der Stop artet zu einer kleinen Weinprobe aus und wir gehen beschwingt weiter, nachdem David sich mit ein paar Flaschen eingedeckt hat. Leider spielt das Wetter nicht mit und der Regen lädt nicht zum Schlendern ein. Nach ein paar Minuten auf den gepflasterten Wegen (wir halten an ein paar typischen Hütten mit Lebkuchen, handgemachten Kerzen und was man hier sonst immer so findet) entscheiden wir daher, im Deidesheimer Hof einzukehren – bei dem Blick auf die Karte muss ich schmunzeln: deutsche Hausmannskost – Sherry bestellt Handkäs.
Deidesheimer Hof: Baldi und David mit der kleinen Sansa
So schön es sich anfühlt im Kreis von Familie, neigt sich der Nachmittag dem Ende und wir müssen weiter: meine Freunde Rainer und Vera auf der Parkinsel in Ludwigshafen erwarten uns, die Basis für meine Besuche in der Heimat. Über die letzten sieben Jahre, so lange kenne ich die beiden ungefähr, hat sich eine tiefe Verbundenheit und bedingungsloses Vertrauen zwischen uns entwickelt. Mit ihnen fühle ich mich immer gut aufgehoben, ich schätze ihre Fürsorge, ihre Einschätzungen und Ansichten, mag die klaren Ansagen und beneide sie um ihre Fähigkeit, geradlinig Entscheidungen zu treffen. Als ich die beiden dann sehe, ihre Stimmen höre, ihnen in die Arme falle, gehts mir rundum gut.
Bevor wir zum gemütlichen Teil des Abends übergehen, findet das jährliche Weihnachtskonzert in der naheliegenden Kirche statt. Mittlerweile sind wir schon an die 24 Stunden wach. Die Blasmusik ist gut, hat bei unserem Schlafmangel jedoch eine einschläfernde Wirkung, Sherry nickt mehrmals ein. Der Fußweg nach Hause weckt uns wieder auf, dort warten Paul (Rainers Sohn), Thai-Curry und guter deutscher Wein. Meine Müdigkeit ist komplett verflogen, es gibt zu viel auszutauschen.
Plätzchen, Marzipan, Eierlikör – muss alles gekostet werden
Sherry verabschiedet sich gegen zehn ins Bett, bis jetzt hat sie ganz tapfer durchgehalten (ich muss mir noch lange von vielen Seiten anhören, dass ich ihr für den ersten Tag ein strammes Programm zugemutet habe). Mit Rainer und Vera sitze ich noch eine ganze Weile da, genieße ihre Gegenwart und fühle mich zuhause. Es muss nach Mitternacht sein, als ich neben Sherry unter die Decke schlüpfe und zufrieden in einen tiefen Schlaf falle.
Am nächsten Morgen wache ich gegen neun Uhr auf, heute ist Heiligabend. Im Haus ist es noch still. Freie Morgende sind hier heilig. Vera und Rainer schlafen gerne aus und genießen dann Kaffee und Zeitung im Bett. Nach einem gemütlichen Frühstück fährt Vera uns nach Mannheim, wo wir Davids Schwester Meike und Frau Diana treffen, die beiden stellen mir die ersten zwei Wochen ihr Auto zur Verfügung. Wir umarmen uns innig und ich werde wie gewohnt mehrmals abgeknutscht – meinem Herz gehts gut! Dann geht’s heim zu Mama. Die Autobahnfahrt von Mannheim nach Sinsheim weckt viele Erinnerungen, ich kenne die Strecke in- und auswendig.
Mama mal wieder im Arm zu haben tut richtig gut. Meine Schwester Ellen begrüßt mich stürmisch, Bruder Manu ist auch schon da, nach und nach trudelt der Reist ein. Siebzehn Personen werden wir heute sein, normale Größe bei uns. Für Sherry muss es überwältigend sein so viele für mich wichtige Menschen auf einmal kennenzulernen. Wie die meisten Familien haben auch wir unsere Bräuche, Abläufe und Traditionen an Weihnachten (mehr nachzulesen im Beitrag vom letzten Jahr). Dazu gehört, dass wir nach dem Essen singen.
Schon seit Wochen bereite ich Sherry darauf vor, dass auch sie singen muss – und zwar allein, zumindest eine Strophe. Zugegeben gibt es die Tradition noch nicht sehr lange, aber da wir einen heiden Spaß hatten als mein Exfreund Eric der erste war, dem wir diese Geschichte verkauften, haben wir dran festgehalten: wer das erste Mal Weihnachten mit uns verbringt, muss alleine singen. Dieses Jahr müssen auch Annes Freund Philipp und Onkel Werner ran. Philipp will sich erst rausreden mit der Erklärung, er sei Heide und kenne keine Weihnachtslieder. Ich kommentiere: ganz billige Ausrede und Anne soll mal besser mit ihm üben. Er und Werner wählen jeweils eine Strophe aus ‚Alle Jahre wieder‘, Ellen begleitet am Klavier – sie ist die einzige von uns, die sich wenigstens noch an diesem einen Abend im Jahr an die Tasten wagt.
Ich werde gefragt, was Sherry denn nun singt und muss sagen, ich habe keine Ahnung, denn sie hat nicht damit rausgerückt. So wie ich sie kenne, hat sie sich allerdings wie immer was Spezielles ausgedacht. Zudem muss sie ohne Klavierbegleitung auskommen, da sie Lieder im Sinn hat, die Ellens Repertoire übersteigen. Sie verschwindet kurz nach oben in unser Zimmer und ich meine zu den anderen, es würde mich nicht wundern, wenn sie im Rentierkostüm zurückkommt. Ganz daneben liege ich nicht, denn sie trägt Rentiergeweihe in den Händen! Ganze siebzehn Stück! – und ich frag mich seit Wochen, warum sie sich dauernd vergewissert hat, wie viele Personen wir nun heute abend sein werden; und wie hat sie die bitte alle in den Koffer bekommen?? Jeder muss eins aufsetzen – wir lachen uns schlapp, Mama und Papa sehen zu komisch aus! Mama sagt, Sherry muss gar nicht mehr singen, wir haben so schon Spaß genug.
Aber natürlich zieht sie durch und singt eine abgeänderte Version von „Twelve Days of Christmas“, für den Refrain stimmen alle mit ein, keiner kennt das Lied, hört sich daher etwas holprig an, aber alle machen mit – gelungene Einweihung. Es folgt die Bescherung, die wir jedes Jahr zelebrieren und dann einfach zusammen sitzen und die Anwesenheit aller genießen.
Zuhause zu sein fühlt sich gut an. Die Feiertage verbringen wir gemütlich. Ich stehe dennoch relativ früh auf, genieße die Gespräche am Morgen mit Mama und gehe eine Runde durch die Felder joggen.
Papa hat sieben Geschwister, Mama einen Bruder. Fast alle Onkels und Tanten haben mehrere Kinder und einige davon jetzt auch schon Nachwuchs. Bis auf einen von Papas Brüdern sind alle Familien entweder im selben Dorf wie wir geblieben oder nur wenige Kilometer weiter gezogen, was bedeutet, dass wir mit den meisten unserer Cousins und Cousinen fast geschwisterlich aufgewachsen sind und bis heute ein sehr inniges Verhältnis in der Familie pflegen. Quasi jeden Monat steht irgendein Geburtstag oder Familienfest an. Heute ist mir mehr denn je bewusst, was für ein eingeschweißter Kreis wir sind und wie selten das heutzutage ist. Ganz traditionell findet am zweiten Feiertag ein Gansessen bei einer von Papas Schwestern und Familie statt und ich sehe endlich mal wieder einige unserer Cousins – Familie, die füreinander da ist und sich vertraut. Neben der Gans gibt es Rotkraut und hausgemachte Semmel- und Kartoffelknödel, für Sherry etwas bisher Unbekanntes. Ich bin amüsiert wie meine Tanten ihr in aller Geduld und mit erstaunlich gutem Englisch erklären, wie man Knödel zubereitet. Gerne würde ich noch länger bleiben, doch wir sind zum Abendessen und Übernachtung bei Marina und David verabredet. Meike und Diana müssen kurzfristig absagen, da es Meike nicht gut geht, aber Baldi kommt dazu. Ein gemütlicher Abend rundet Weihnachten ab.
Am 27. sind die Läden wieder geöffnet und wir verbringen ein paar Stunden mit Bummeln in Mannheim. Ich zeige ihr einen Ausschnitt von der Stadt, in der ich vierzehn Jahre lebte bis ich 2016 nach Brasilien aufbrach.
Planken in Mannheim
28.Dezember: Heidelberg muss sein – Altstadt, Schloss, Untere Straße und Melonenschnaps – der schmeckt Sherry so gut, dass sie noch einen zweiten will.
Destille in Heidelberg
auf der Alten Brücke. Schloss Heidelberg im Hintergrund
Gegen Abend fahren wir nach Frankfurt zu meiner Freundin Eva – das Wochenende ist reserviert für sie und Franzi, die beide dort leben. Wir verbringen den ersten Abend zuhause, fühlt sich wieder an als wäre ich kaum weg gewesen.
Den Samstag beginnen wir im Harley Store, Sherry findet ihr Shirt mit Frankfurt- Aufdruck und mehr. Stadtspaziergang mit Eva und Dinner zusammen mit Franzi im Restaurant Ginko.
Franzi kommt mit Sebastian und Sohn Hektor am Sonntag zum Brunch. Meine Freundinnen mit den Kindern zu sehen, hält mir vor Augen wie die Zeit vergeht: ihre Kinder werden größer, das Leben schreitet voran. Ein Gefühl von Traurigkeit überkommt mich: ich habe nicht genug Zeit mit allen. Jeder Abschied ist begleitet vom Bewusstsein, dass der Zeitpunkt des nächsten Wiedersehens ungewiss ist.
Wir machen uns auf den Weg zurück nach Mannheim, ich will mir die neue Kunsthalle anschauen. Danach bei Baldi vorbei in meine Wohnung, die Post der letzten zwölf Monate durchgehen. Dinner im Lido, ein beliebtes Café in der Schwetzinger Vorstadt.
Café Lido
31.Dezember, Silvester: Lunch im Memoires d’indochine.
Lange stand offen, wo wir ins neue Jahr feiern. Je näher der Termin rückte, desto offensichtlicher wurde, dass die meisten meiner Freunde es dieses Jahr ruhig angehen oder verreist sind. Spontan entscheiden wir an einem Abend noch bevor wir in Deutschland sind, unser eigenes Ding zu machen und buchen uns ins Hotel Radisson Blue in Mannheim. Mir gefällt der Gedanke sofort, hier ins neue Jahr zu feiern. Nach gemütlichem Frühstück mit Rainer, Vera und Paul checken wir ein, besorgen Sekt zum Anstoßen und machen es uns dann im Hotel etwas gemütlich bevor wir uns für den Abend rausputzen.
Unser Dinner im Restaurant „Kleiner Rosengarten“ wird zum absoluten Reinfall. Der Service ist so schlecht, um nicht zu sagen nicht existent, dass wir glauben im falschen Film zu sein. Von allein gelassen werden über falsches Essen bis hin zu keine Nachfragen, kein Wein nachschenken – alles dabei. Wir nehmen es mit Humor, ich beschwere mich bevor wir gehen – stößt auf Erstaunen. Im Nachhinein hätten wir einfach gehen sollen ohne zu bezahlen – wir fühlten uns so unsichtbar, das hätte keiner bemerkt. Auf dem Rückweg zum Hotel halten wir im „Café Klatsch“ um zu sehen, was dort los ist – aber alles männlich – ein Getränk und weiter. Wir schnappen den Sekt und begeben uns zum Feuerwerk auf die Dachterrasse. Sherry ist ganz baff, wie lange hier geballert wird.
Happy New Year
Neujahr 2019: Nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotel machen wir uns auf in die Thermen & Badewelt Sinsheim – eine Wellness-Oase mit tropischem Klima, Glasdach, riesigen Palmen und verschiedenen Themensaunen. Laut Guiness World Records ist die Koi-Sauna die größte der Welt – definitiv einen Besuch wert. Ich bin etwas verkatert, da ist so ein entspannter Tag genau das Richtige. Etwas Vergleichbares gibt es in Kanada meines Wissens nicht und bei meiner Beschreibung ist Sherry geschockt, dass man im Saunabereich keine Kleidung tragen darf – entweder ganz nackt oder mit Handtuch. Je näher der Tag rückt, desto nervöser wird sie. Als wir dann in der Umkleide stehen, wiederholt sie mehrmals: „I can’t believe I’m doing this!“ Wir starten im Poolbereich, wo mein Bruder an der Bar arbeitet und uns einen Cocktail reicht. Nach etwas Planscherei hier führe ich Sherry in den gefürchteten Bereich und komme den ganzen Tag nicht mehr aus dem Grinsen heraus: Ihr Gesichtsausdruck beim Anblick all der nackten Körper lässt mich meinen Kater ganz schnell vergessen. Trotz ihres Unbehagens zieht sie mit und folgt mir, zunächst geklammert an ihr Handtuch, von Dampfbad mit Salzpeeling über verschiedene Themensaunen hin zu Außenbecken und Gemeinschaftsdusche – auf ganz unterschiedliche Weise ein unvergessliches Erlebnis für uns beide.
Bevor wir uns auf den Rückweg nach Ludwigshafen begeben, halten wir bei meinen Eltern, um ihnen ein frohes neues Jahr zu wünschen – eine Angewohnheit für den Neujahrstag: entweder ein Anruf oder Besuch bei den Eltern.
02.01: Spaziergang in der Sonne am Rheinufer, meine alte Laufstrecke – Sherry hat Asche ihres verstorbenen Bruders mitgebracht und lässt ein wenig von ihm hier im Fluss.
Rheinufer Mannheim
Am Abend besuchen wir meine Freundin und Englisch-Kollegin Anja. Für Sherry bedeutet das zum ersten Mal perfekte Kommunikation, seit wir hier sind – das tut ihr gut!
Generell macht sie ohne Ausnahme alles ohne Murren mit, zeigt sich in jeder Situation verständlich. Meine Freunde beziehen sie ein so gut es geht, manchmal passiert es aber eben doch, dass wir ins Deutsche wechseln. Da sie bei der Planung unseres Trips direkt erkannte, wie knapp die Zeit für mich sein würde, schlug sie vor, eine Woche alleine auf eigene Faust zu reisen, um mir Freiraum zu geben – und wenn sie schon mal in Europa ist… Sie plant Paris und Nizza. Da wir kaum Zeit zu zweit haben, reservieren wir außerdem drei Tage für uns – ein Kurztrip nur für uns zwei. Wir entscheiden uns für Amsterdam, da ich es dorthin selbst noch nie geschafft habe.
Während meiner Recherche stolpere ich über Haarlem, was oft als klein Amsterdam beschrieben wird. Erfahrungsberichte online lesen sich durchweg positiv und die Nähe zum Meer ist verlockend. Nach Amsterdam kommt man von dort mit dem Zug ganz easy in zwölf Minuten – unsere Wahl ist getroffen. Ganz ohne Navi kommen wir problemlos in Haarlem an und begeben uns nach dem Check-in bei unserem Airbnb-Gastgeber direkt auf Erkundungsspaziergang. Die Stadt macht sofort einen charmanten Eindruck: enge Gassen, Pflasterstein, kleine Cafes, ein Bachlauf umrundet den Stadtkern.
Sonnenuntergang in Haarlem
Wir machen halt in der lokalen Brauerei, die in einer alten Kirche beherbergt ist.
Den nächsten Tag verbringen wir in Amsterdam. Als wir am Gleis auf den Zug warten, fragt Sherry mich, was die Zahlen auf der Anzeige bedeuten – Gleis, Wagennummer und so weiter, scheint ihr alles völlig fremd. Ich frage, bist du noch nie Zug gefahren oder wie? Mit fast hilflosem Blick entgegnet sie: seit ich siebzehn bin, hatte ich mein eigenes Auto. Ich runzle die Stirn: das kann ja heiter werden, du eine Woche allein mit Bus und Bahn!
Wir sind den ganzen Tag auf den Beinen, steuern die interessantesten Stadtviertel an, Bootsfahrt, Rotlichtviertel und Dinner im veganen Restaurant „Mr & Mrs Watson“. Die vegane Käseplatte enttäuscht nicht.
Tag drei: wir fahren nach Bloemendaal ans Meer. Ich bin überrascht, wie schön der Strand hier ist. Erinnert mich ein bisschen an den Atlantik in Frankreich, dort ist genauso viel Platz. Sherry lässt ein bisschen Luke hier.
Wir halten auf ein Getränk am Strandrestaurant. Shopping in Haarlem, Dinner und Absacker in uriger Kneipe.
Wenn wir alleine sind, zeigt sie sich gewohnt quirlig. Da wir die meisten Abende mit Rainer und Vera verbringen, taut sie mit den beiden am schnellsten auf. Wie nicht anders erwartet, mag sie jeder sofort gern. Ich fühle mich nach wie vor zerrissen, sehe unsere verschiedenen Hintergründe, unsere jeweilige Verbundenheit zur Heimat. Da scheint es schwer auf einen Nenner zu kommen. Sie sieht, dass ich in Halifax nicht glücklich und oft launisch bin, hält sich dementsprechend emotional zurück, warum sollte sie sich auch ganz öffnen, wenn ich so verschlossen bin (was mir oft gar nicht bewusst ist). Ich scheue mich vor einer Entscheidung, habe viel in der Hand, was mich auf gewisse Weise ängstigt.
Nach unserer dritten Nacht in Haarlem ist es soweit und ich setze Sherry am Bahnhof ab, was sich anfühlt wie eine Zehnjährige alleine in den Zug zu setzen. Eine feste Umarmung, ein Kuss und sie geht durchs Drehkreuz, blickt nicht zurück – wird schon alles gutgehen. Alleine begebe ich mich auf den Weg zurück nach Mannheim – komisches Gefühl, wir waren noch nie wirklich getrennt.
In Mannheim halte ich auf einen Kaffee bei Jeannette, meiner früheren Nachbarin. Dann folgen sieben Tage, die ich vollpacke mit vielen schönen Wiedersehen, die mich in viele kleine und große Glücksmomente versetzen. Ich bin nonstop unterwegs und fühle mich unendlich reich all diese tiefen Freundschaften zu haben.
Ich starte die Woche mit meinem Bruder Baldi und einem Besuch in Bayreuth, um unsere verbliebenen leiblichen Verwandten zu treffen. Wir hören mehr Geschichten über unsere leibliche Mutter und die Autofahrt bietet Gelegenheit für tiefsinnige Gespräche zwischen Geschwistern.
Dienstag tagsüber Stadt, abends Treffen mit den Volleyballern. Mittwoch früh Zahnarzt, Nachmittag mit Freund Matthias, Abend bei Freundin Annette. Donnerstag ist Vanessa dran, ich nenne sie auch meine Fitnessfreundin, da wir uns im Fitnessstudio Pfitzenmeier kennenlernten, wie die Wilden zusammen trainierten und schnell eine innige Freundschaft entwickelten. Zum Abend bin ich zurück bei Rainer und Vera und erzähle von unseren Tagen in Holland. Freitag besuche ich meinen ehemaligen Arbeitsplatz und werde wie letztes Jahr herzlich empfangen, später Mädelsabend mit Marina, Meike und Diana. Samstag Stadt mit Rainer, Vera und Steffi, Kaffee bei meiner Heilpraktikerin Esther, abends Heidelberg mit Freunden Franzi und Eva (nicht zu verwechseln mit gleichnamigen Freunden in Frankfurt). Mit den beiden verbinden mich Urlaube in Frankreich, Aufwachsen in derselben Heimat und Leben in Mannheim. Zufällig treffe ich auf einen ehemaligen Schüler, der sich kaum einkriegt, mir hier über den Weg zu laufen, mir gehts ganz genauso.
mit Franzi und Eva im Restaurant „Hans im Glück“
Am Sonntag Schwester Veronica, Mama, ehemalige Schülerin Johanna und ihre Eltern.
So schnell verstreichen sieben Tage und am darauffolgenden Montag hole ich Sherry vom Bahnhof in Mannheim ab. Ihr Bus ist zwei Stunden zu spät und ich werde fast ein wenig nervös. Als ich sie dann erschöpft aus dem Bus steigen sehe, bin ich erleichtert.
Wir kehren bei meinem Lieblingsitaliener ein, besuchen David in seinem Laden und verabschieden uns von Meike und Diana. Einkaufen fürs Abendessen und zurück zu Rainer und Vera. Sherry kocht an diesem letzten Abend ihre berühmten Spaghetti. Außerdem gesellt sich Veras Bruder Micha zu uns, der auf dem Heimweg Richtung Mosel hier einen Stopp über Nacht einlegt und alle Zutaten für verhängnisvolle Rum-Cocktails im Gepäck hat. Ich brauche jetzt endgültig eine Alkoholpause.
Am Dienstag ist es Zeit abzureisen. Innerlich widerwillig packe ich alles zusammen. David holt uns ab, sammelt Marina und Sansa ein und los geht’s nach Frankfurt. Abschied von Marina und David, wir checken ein in unser Hotel in der Nähe des Flughafens für die letzte Nacht. Eigentlich wollte ich an diesem letzten Abend nochmal Franzi und Eva in Frankfurt treffen. Doch vom Hotel in die Stadt zu kommen, ist ein ziemlicher Aufwand und morgen müssen wir um vier Uhr in der Früh aufstehen. Ich sage beiden ab und wir telefonieren stattdessen. Franzi weint am Telefon. Die Entfernung zwischen uns ist für sie schlimmer als mir bewusst war. Eva bringt mich ihrerseits fast zum Weinen mit ihrer treffenden Einschätzung über mich.
Zurück in Halifax. Sherry’s Mutter Beverly holt uns ab und Sherry freut sich, wieder zuhause zu sein. Auf der Heimfahrt vom Flughafen quatschen die beiden und meine Gedanken schweifen ab: ich bin nicht gut drauf und vermisse die Heimat jetzt schon – das schwere Herz ist zurück. Spüre Aufbruch, Lust nach Neuem. Dazu kommt die Müdigkeit von der Reise. Der Kontrast ist extrem und trifft mich hart. Gestern noch umgeben von zig Freunden und Familie, in der Stadt, alles in der Nähe. Jetzt wieder im ruhigeren Halifax und abgesehen von Sherry nicht viel Gesellschaft um mich.
Niemals geht man so ganz, irgendwas von mir bleibt hier. Es hat seinen Platz – immer bei dir. – Trude Herr