10 – 24 Juli 2018
Gegen 10 Uhr morgens holt Sherry mich ab, wir legen einen kurzen Stopp bei ihrer Mutter Beverly ein. Die beiden haben ein inniges Verhältnis, Beverly hat eine Vorliebe für Kitsch vom Feinsten, ihr Schlafzimmer gleicht dem einer Prinzessin wie im Märchen. Passend dazu hat sie einen dieser Minischoßhunde mit Schleife im Haar. Am frühen Mittag erreichen wir das Meer. Sherry’s Freundin Donna und Ehemann haben dort einen Trailer und Wohnmobil. Als wir durch die Tür treten, fühle ich mich sofort wohl. Donna kommt später, wir spazieren in der Zwischenzeit mit den Hunden am Strand entlang und genießen die Terrasse in der Sonne mit Blick auf den Horizont. Donna trifft gegen Abend ein, sehr sympathische Person, wir sitzen bei Wein gemütlich zusammen und Donna’s Mutter, die nebenan wohnt, gesellt sich auch noch zu uns.
Der zweite Tag beginnt windig und trüb. Eigentlich wollten wir mit den Kajaks raus, doch so machen wir es uns gemütlich und spielen den ganzen Tag Karten, machen einen Spaziergang am Strand, ich kann mal wieder nicht widerstehen und renne in Unterwäsche ins Wasser. Donna legt Tarotkarten für uns, liest unsere Hand und kennt sich auch ein wenig in Numerologie mit Namen aus. Für diese spirituellen Dinge war ich schon immer empfänglich und was sie in meiner Hand sieht, ist spannend, amüsant und erstaunlich wahr, was meine Geschichte angeht. Anscheinend werde ich steinalt – ich scherze, dass mich das nicht wundert mit meiner Lebensweise. Rundum sind die Stunden hier sehr erholsam und entspannend. Donna’s frisch gebackene Zimtschnecken tragen mit ihrem himmlischen Duft zum heimeligen Gefühl bei.
Der Donnerstag zeigt sich stürmisch, daher brechen wir recht schnell nach dem Frühstück auf. In Halifax scheint überraschend die Sonne, wir begeben uns auf direktem Weg in die Küche. Als ich gegen Abend heim zu Robyn komme, ist die Stimmung miserabel. Wieder wird mir unterstellt, mit Sherry würde etwas laufen. Die Situation ist heikel: Robyn ist hochsensibel, verarbeitet den Tod ihres Vaters und kommt zurück zu all den Veränderungen, erlebt mich wahrscheinlich anders als zuvor und fühlt sich nicht wertgeschätzt. Ich verstehe. Ich dagegen genieße es, endlich etwas unabhängiger zu sein, erste eigene Freunde zu haben, da es mir ein klein wenig von dem gibt, was ich zuhause hatte. Während einem meiner Läufe um den See denke ich an meine Singlezeit vor und nach Eric – nie war ich zufriedener und erfüllter: Familie und Freunde um mich, fitter denn je, Spaß mit meiner Arbeit und regelmäßig auf Reisen. Doch ich wollte mehr vom Reisen – der Ruf war stärker als alles andere.
Robyn hat mir die einsame Zeit hier wesentlich leichter gemacht, mich überall eingebunden und mich auf die Idee mit dem Markt gebracht. Jetzt sind meine Kräfte zurück, die Sehnsucht nach Freunden und Familie stärker als zuvor.
An einem Samstag morgen auf dem Markt unterhalte ich mich lange mit einer deutschen Frau. Sie wanderte vor vielen Jahren hierher aus und erkundigt sich regelmäßig, wie es mir geht im fremden Land, weit weg von der Heimat. Wir sprechen über Heimweh, Verbundenheit, den Kontakt verlieren. Sie erzählt von der Erfahrung, irgendwann nur noch die entfernte Tante zu sein, man gehört nicht mehr so dazu wie früher. Der Gedanke versetzt mir einen Stich. Ich solle es mir gut überlegen wie lange ich weg bleiben will und mich dann nicht aufhalten lassen von Business oder Sonstigem. Sie kann bestätigen, dass es weh tut, wenn man nicht mehr so dazugehört.
Ich erlebe in diesen Tagen Momente mit vielen Tränen, Schmerz in mir, Zerrissenheit, Sehnsucht, Verlorenheit.
In meiner verzwickten Lage steht jetzt die Frage im Raum, ob ich erstmal ausziehe, damit sich die Wogen glätten können. Robyn ist völlig am Ende, der Zeitpunkt könnte für sie nicht ungünstiger sein. Es macht mich traurig, dass ich zu ihrem Schmerz beitrage, möchte sie nicht noch mehr verletzen als schon geschehen. Fühle, dass ich mich vielleicht wirklich erstmal zurückziehen sollte, Anspannung pur, wir können kaum noch normal miteinander umgehen. Da Robyn’s Wohnung in diesen Monaten auch zu meinem Zuhause geworden ist, ist es gar nicht so leicht einzupacken und zu gehen. Schnitt, Ende, Anfang, Wandel, Ungewissheit. Sherry bietet mir ihr Gästezimmer an. Sie kennt ähnliche Situationen aus ihrer eigenen Vergangenheit und will helfen. Zu meinem Bedenken, ihr zuviel zu werden, meint sie nur ‚I’m easy.‘
Am 17. Juli packe ich zusammen und ziehe zu Sherry. Es rührt mich, wie lievevoll sie mein Zimmer hergerichtet hat.
In den folgenden Wochen treffe ich Robyn noch ein paar Mal. Wir schaffen es, die Begegnungen überwiegend positiv zu gestalten, dennoch sind da viele verletzte Gefühle und jetzt einfach Freunde sein – das hat noch nie funktioniert. Ich ziehe mich zurück, was interpretiert wird als im Stich lassen. Ich kanns nicht ändern und spüre, dass es Zeit braucht, bis Wunden verheilt sind.
„We demand closure as though our lives were put together as neatly as novels, but the fact of the matter is they’re not. In real lives, relationships are messy and poorly written, ending too early or too late, and sometimes in the middle of a sentence.“ Beau Taplin – Neatly as Novels
Täglich fahre ich nun morgens mit Sherry in die Küche und wir kochen und backen Seite an Seite. Mit ihrer heiteren und oft kindischen Art bringt sie mich täglich zum Lachen und stellt sicher, dass mir nicht langweilig wird.
Die Pride Parade findet jedes Jahr Ende Juli statt und wird in Halifax ganz groß gefeiert wird. Die gay community scheint hier größer zu sein als fast überall sonst in Kanada. Nach dem wöchentlichen Samstagsmarkt, auf dem wir beide verkaufen, fahren wir in die Stadt und gesellen uns zu den Zuschauern.
Wir treffen auf Sherry’s Freunde John und Cyrill. Ich fühle mich John direkt nahe, was mir immer passiert mit Menschen, die strahlen und viel Gefühl zeigen. Spontan gehen wir mit ihnen zu ihrer Freundin Stefanie nach hause, die ein Apartment mitten in der Stadt hat. Mein erster Eindruck von ihr: sie ist überdreht, wirkt immer gut gelaunt, redet viel, vermeidet Augenkontakt, reist viel um die Welt. Ganz perplex sind wir als sie erzählt, dass ihre Eltern innerhalb einer Woche starben als sie 22 ist. Ich bin berührt und verstehe sofort meine Beobachtungen – vergangene Erlebnisse, die unsere Verhaltensweisen prägen.
Nach ein paar drinks machen wir uns auf zum Garrison Ground: ein Feld im Freien mit Bühne und Bierständen. Ich hab ganz schön einen sitzen mittlerweile, quatsche hier und da mit Leuten, die ich gerade erst getroffen habe.

Wir bleiben gefühlt dreißig Minuten bevor sich unsere Gruppe auflöst. Sherry bringt mich zum Pub ‚Your Father’s Moustache‘. Dort spielt gerade ihr Freund Joe mit seiner Band, wir bleiben ne Stunde, essen einen Happen und machen uns dann auf den Weg nach Hause. Viel Zeit bleibt dort nicht, denn am Abend geht es gleich weiter: Hunde versorgen, umziehen, und los zum ‚Women’s Dance‘: eine von mehreren Veranstaltungen im Jahr, gedacht für lesbische Frauen. Verabredet ist Sherry dort mit ihren Freunden Trish und Tamara. Eine von Sherry’s vielen Talenten ist das Tanzen und so zieht sie mich immer wieder auf die Tanzfläche. Um halb zwei sind wir zurück zuhause – 21 Stunden wach. Wir fallen müde ins Bett und als mir die Augen zufallen, blicke ich auf einen gefühlvollen Tag zurück.
Veränderung kann schmerzhaft sein, aber nichts schmerzt mehr, als dort zu bleiben, wo man nicht hingehört.